Run auf die Plätze

12.06.1996 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | RAF

Veröffentlicht in: Konkret 06 / 96, S. 24: KONKRET-Gespräch mit dem seit Juni 1971 - mit Unterbrechungen - inhaftierten Gefangenen aus der RAF, Helmut Pohl, über die strategischen Auseinandersetzungen zwischen RAF und Gefangenen, das Grundkonzept der RAF und die politische Arbeit unter Haftbedingungen

KONKRET: Zwischen RAF und etlichen Gefangenen hat es eine Spaltung gegeben, die Gefangenen treten nach außen hin nicht mehr als einheitliche Gruppe auf. Als wer oder für wen sprechen Sie in diesem Interview?

Pohl: Zuerst spreche ich für mich. Aber es fließt auch ein, was ich von anderen Gefangenen weiß. Wir sind seit dem Hungerstreik 1989 allerdings fast alle vereinzelt gewesen. Es gab keine Möglichkeit zum Austausch über die neue Situation. Und die Post ist dafür auch kein geeignetes Medium.

KONKRET: Warum nicht?

Pohl: Unsere Post wird seit über zehn Jahren ausgewertet. Vom BKA werden damit Projekte zur Stilerkennung gefüttert, jede Zeile von uns wird benutzt - das macht eine Diskussion unmöglich. Es geht aber auch praktisch nicht, ausschließlich über so ein schwerfälliges Medium wie Briefe zu kommunizieren. Trotzdem besteht das Kollektiv aber noch weiter: Wir kämpfen zusammen um unsere Freiheit.

KONKRET: Wie erklären Sie, daß sich infolge der Ankündigung von 1992, die RAF werde die bewaffneten Aktionen gegen Menschen einstellen, die Gefangenengruppe aufgelöst hat und die RAF von der politischen Bildfläche verschwunden ist?

Pohl: Die Zäsur, wie wir sie gewollt haben, ist überhaupt nicht gemacht worden. In unserer Vorstellung war die Zäsur das Stichwort für eine Transformierung von dem, was die RAF früher war, zu einer politischen Kraft, die auf die neue politische Situation einwirken kann. Und das ist nicht gelungen. 1992 sind nur endlich diese Aktionen eingestellt worden, und der Rest hat sich in Luft aufgelöst. Die Ursache liegt darin, daß eine politische Auseinandersetzung darüber, wie es künftig weitergehen kann, überhaupt nicht in Gang gekommen ist.

KONKRET: Aber es gibt mittlerweile ein ganzes Buch voller Papiere, voller Kritik und Selbstkritik von RAF und Gefangenen ...

Pohl: Aber diese Papiere der RAF und das, was als "Selbstkritik" lief, das war doch keine wirkliche Kritik. Das war die 80er Jahre umbiegen oder einmal durch die Waschanlage und die Kiste umspritzen. Die sogenannte "neue Politik" der RAF hatte nur versucht, eine Variante "revolutionärer" Politik im alten Grundschema zu machen, die Reproduktion desselben, aber sozusagen diesmal ganz richtig. Und so eine Abwandlung des alten Grundkonzepts reicht nicht hin. In diesem Zusammenhang: Ich finde es auch nötig, daß die Illegalen ihre Auflösung als RAF erklären. Das wollen auch andere Gefangene ausdrücklich, daß es hier gesagt wird. Und dann muß man sehen, was sich entwickelt.

KONKRET: Wie hätte Ihrer Meinung nach die Diskussion verlaufen müssen?

Pohl: Um das zu erklären, ist es nötig, sich die Geschichte des Zäsur-Gedankens anzuschauen. Das erste Mal ist von seiten der Gefangenen 1987 von Zäsur die Rede gewesen ...

KONKRET: Also nach den Anschlägen auf den MTU-Manager Ernst Zimmermann, den Siemens-Manager Kurt Beckurts und den Diplomaten Gerold von Braunmühl. Bestand ein Zusammenhang zwischen der Zäsur-Diskussion und den Anschlägen?

Pohl: Der Zäsur-Gedanke hat vor allem was mit den internationalen Entwicklungen zu tun. Uns war 1987 klar geworden, daß die Verhältnisse dabei waren zu kippen. Und deswegen mußte nach unserer Meinung das gesamte Konzept, das die RAF bis dahin ausgemacht hatte, in Frage gestellt werden. Aus dieser Analyse ist aber keine Diskussion entstanden, sie ist steckengeblieben. Das ist auch eine Kritik an uns Gefangenen: Wir hätten damals, als deutlich wurde, daß wir nicht weiter kommen, von uns aus erklären müssen, daß es so nicht weitergehen kann. Aber wir haben damals gedacht, das geht nicht, damit dringen wir nicht durch. Die Grundgedanken waren uns auch einfach zu wenig, wir konnten, weit weg im Gefängnis und einzeln isoliert, auch nicht sagen, was das alles letztlich bedeutet und wie es weitergehen wird. Trotzdem hätten wir damit herauskommen müssen. Wenigstens hatten wir den Finger draufgelegt, als einige der wenigen damals.

Und wir haben im Hungerstreik 1989 mit unserer Hungerstreikerklärung noch einmal versucht, diese grundsätzliche Neuorientierung einzuleiten. Danach lief es über unser Drängen darauf hinaus, daß die RAF die Einstellung der bewaffneten Aktionen erklärt ...

KONKRET: Das war eine intern geäußerte Forderung?

Pohl: Ja. Das waren unsere internen Diskussionen, was die bewaffneten Aktionen betrifft.

KONKRET: Wieso haben Ihrer Meinung nach die neuen internationalen Entwicklungen dazu geführt, daß der bewaffnete Kampf keinen Sinn mehr hat?

Pohl: Immer wieder wird die Politik der RAF mit dem bewaffneten Kampf gleichgesetzt. Das war aber nie so gedacht, das sollte nie so sein, und wo es doch so war, war es ein Fehler. Der Zäsur-Gedanke hat deswegen auch mit dem bewaffneten Kampf erstmal gar nichts zu tun. Mitte der achtziger Jahre war weltweit eine Tendenz zur Entgrenzung festzustellen. In Mittelamerika wurde ein Vernichtungskrieg geführt, und er ist hier überhaupt nicht mehr wahrgenommen worden, im Gegenteil, es wurde das entgegengesetzte Bild verbreitet, und das hat gegriffen. Es ging hier immer darum, daß dort angeblich demokratische Fortschritte zu verzeichnen wären, während tatsächlich ganze Landstriche zerstört worden sind.

Gleichzeitig ist hier in Zentraleuropa in allen wesentlichen Bereichen die Macht mit ihren Projekten durchgekommen: Ob es jetzt um Gentechnik geht, um Atomtechnologie, um die Festung Europa oder um militärische Strukturen. Es war ein Qualitätsumschlag, der für uns zu dieser Zeit sichtbar wurde. Deswegen war es für uns von enormer Bedeutung, daß aus einem weiten linken Spektrum Leute zusammenkommen und diskutieren, um zu begreifen, in welche katastrophale Richtung sich die Verhältnisse entwickeln. Denn es war ja nicht nur unser Ansatz, Politik zu machen, überholt worden, auch die anderen linken Gruppen, ja sogar das linke bürgerliche Lager, waren gescheitert und standen plötzlich ohne angemessene Instrumentarien und Methoden da, die geholfen hätten, mit der neuen Lage umzugehen.

KONKRET: Das heißt, die Entscheidung gegen Anschläge, wie sie früher Kennzeichen der RAF waren, hat grundsätzlichen Charakter. Wie paßt das aber zu Ihrer Erklärung von 1993, in der Sie geschrieben haben: "Ich mache diese Aussagen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, heute nicht mehr. Und die Möglichkeiten, die in der Zäsur gesteckt haben, dürften vorbei sein. Und deswegen werde ich einen Teufel tun und den bewaffneten Kampf absagen." Das paßt besser zu dem Hardliner-Image, das Ihnen die Bundesanwaltschaft verpaßt hat.

Pohl: Es war sicher ein Fehler, daß ich diesen Schlußpassus der Erklärung im Zorn so formuliert habe. Aber wer den ganzen, damals in der "Taz" abgedruckten Text liest, kann leicht feststellen, daß der Sinn in diesem Zusammenhang ist: Ich lasse mich nicht zur Staatspropaganda erpressen. Von uns ist damals eine deklaratorische Absage an Gewalt und die RAF-Politik von Anfang an verlangt worden - und dazu war ich nicht bereit. Die Zäsur war nicht als diese Art Zugeständnis gedacht, sie wäre notwendig gewesen, um weiter Politik machen zu können.

In der Anfangszeit unserer Zäsur-Diskussion haben Besucher von uns und die RAF gar nicht verstanden, worum es uns ging. Beispielsweise wurde uns immer wieder entgegengehalten, daß der Angriff aufrechterhalten werden müßte. Ich persönlich finde das überhaupt keinen überzeugenden Gedanken: Wenn zwischendurch was Richtiges gemacht wird, dann schadet es nicht, "wenn der Angriff nicht aufrechterhalten wird". Aber selbst wenn man das anders sieht, hätte man eine andere Angriffsform finden müssen. Und da hat es in dieser Zeit Überlegungen gegeben - z.B. daß an Stelle der Erschießungen Sabotageaktionen auf hohem Niveau gemacht werden könnten. Aber umgesetzt worden ist auch das nicht.

Und dieser "Hardliner"-Vorwurf, der hat mit dem, was wir Gefangenen tatsächlich machen oder sagen, nichts zu tun. Bis 1991/92 galten wir Gefangenen grundsätzlich alle als "Hardliner" - und zwar trotz unserer Anstrengungen, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Ich erinnere hier nur mal an diese Vollmer/Käsemann/Walser-Initiative 1988: Darauf sind wir eingegangen, und zwar nicht als taktisches Manöver, sondern weil es uns um diesen Zäsur-Gedanken ging. Aber der Apparat hat das verhindert. Als "Hardliner" galten wir trotz unserer Bemühungen im Hungerstreik 1989, obwohl wir da mit Leuten aus dem Apparat und vielen anderen gesprochen haben - und alle wußten, daß wir was Neues wollen. Damals sind angebliche Angriffspläne von uns erfunden und durch die Medien lanciert worden, obwohl wir durch Irmgard Möller auch öffentlich erklärt hatten, daß wir die Einstellung der Aktionen begrüßen. Tatsachen haben in diesem Propaganda-Rollback überhaupt keine Rolle gespielt.

Wenn man sich das heute anschaut, dann muß man sagen: Statt einer Transformierung der RAF und der notwendigen politischen Entscheidung in der Gefangenenfrage für alle Gefangenen, ist eine Spaltung gekommen, die über die Reduzierung auf einige wenige Gefangene und die entsprechende "Hardliner"-Propaganda das zu dieser Zeit aktuelle Gefangenenproblem "erledigt" und es den Staatsapparaten ermöglicht hat, an uns übriggebliebenen Gefangenen doch noch zu versuchen, das zu Ende zu bringen, was sie 20 Jahre lang mit allen Gefangenen vorhatten.

KONKRET: Was könnte das Interesse der Bundesanwaltschaft daran sein?

Pohl: Ihr ist vor allem wichtig, die politische Feinderklärung fortwirken zu lassen, und sie will offensichtlich auf keinen Fall den politischen Prozeß zulassen, den wir anstreben. Die RAF-Geschichte soll mit einer Abrechnung beendet werden, die sich natürlich auch an Personen festmacht, und eben nicht in einen politischen Prozeß münden. Und das hat nicht nur was mit der RAF zu tun, sondern zeigt insgesamt, wie die Gesellschaft nach Vorstellung von BKA und Bundesanwaltschaft funktionieren soll.

KONKRET: Aber daß das funktionieren kann, hat doch auch was mit der RAF selber zu tun, die nie sehr offen für kontroverse Diskussionen war, und die sich niemand vorstellen konnte als eine Gruppe, die zu einem anderen Mittel greift als zu dem, Menschen zu töten.

Pohl: Sicher hat das auch mit der RAF zu tun. In den achtziger Jahren war es keine Spezialität der RAF, unzugänglich für kontroverse Diskussionen zu sein. In anderen linken Gruppen gab es das genauso. Die Ursache dafür liegt meines Erachtens ziemlich weit zurück. Der Grundfehler bei uns, aber auch in vielen anderen linken Gruppen, war, daß die politischen Strukturen immer wenig oder gar nicht entwickelt wurden: Statt dessen haben sich Ideologie und Aktionismus durchgesetzt. Dabei hat das RAF-Konzept immer schon beinhaltet, daß es ein Primat der Politik geben muß, die bewaffnete Aktion sollte die Politik befördern, aber nicht ersetzen.

KONKRET: Daß die RAF gerade nicht in erster Linie politisch, sondern militärisch handelt, haben auch linke Gruppen immer wieder kritisiert.

Pohl: Ja, aber immer nur so, wie es ihnen gerade in ihr ideologisches Konzept gepaßt hat. Deswegen sind diese Auseinandersetzungen immer wieder gescheitert. Ich denke, daß der Grundfehler von allen, den Gruppen der radikalen Linken allgemein und der RAF, war, daß wir uns viel zu wenig in der Realität bewegt haben und viel zu sehr in der Ideologie. Es gab Treffen, Papers, Konzeptdiskussionen, Veranstaltungen, Kampagnen - aber das war nichts Reales. Und der Zusammenbruch der radikalen Linken Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre war die Stunde der Wahrheit für dieses Konzept von Politik, das seit den sechziger Jahren entwickelt worden ist. Wenn etwas erkämpft worden wäre aus allem, worum es die ganze Zeit ging, dann hätte etwas davon hinübergenommen werden müssen. Aber das ist nicht geschehen. Statt dessen Selbstauflösung und Run auf die Plätze.

Und das bringt darauf - bei der RAF war es ja auch nicht anders als sonst - , daß die deutsche radikale Linke überhaupt nie aus dem Widerspruch rausgekommen ist, im weitestentwickelten System zu leben und die sich daraus ergebenden Widersprüche gleichzeitig nicht auszuhalten: Einerseits möchte man raus, zu etwas anderem, andererseits ist hier der beste von allen Plätzen, die sichtbar sind. Dieser Widerspruch hat in unserem Spektrum eine Theorie und Praxis hervorgebracht, die von ideologischem Denken, in sich kreisender Betriebsamkeit und Aktionismus geprägt war. Ich nenne das "Politik-Ersatz".

Und Politik heißt hier: reale Prozesse, nicht Ideologie. So schlau wie die weiße europäische Linke, und noch mal ganz besonders die BRD-Linke, war auf der ganzen Welt kaum jemand. Niemand hat mehr gelesen, so viel geredet wie die Linke hier. Das ist aber nicht Politik. Sie zeigt sich als stationärer Prozeß, der in diesen gesellschaftlichen Rahmen eingepaßt bleibt. Ein Beispiel dafür, was ich mit stationär meine: Frauen kommen doch seit langem massiv damit, daß diese sogenannte Sexismus-Debatte, die Männer-Diskussion, immer nur das Ergebnis hat, daß das Problem debattenmäßig bewältigt wird, damit es politisch erledigt ist und alles so bleiben kann, wie es vorher war. Und da haben sie recht. Es ist eine Art Problembeseitigungsmechanismus.

KONKRET: Und die RAF ist Teil dieses stationären Prozesses?

Pohl: Sie war Teil davon geworden. Die Aktionen, die dann in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre gemacht wurden, waren für die meisten der heutigen Gefangenen grundsätzlich falsch. Die bewaffnete Aktion hatte für uns ja immer eine strategische Funktion. Sie sollte was klarmachen und weiterbringen. Die Aktionen in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre waren aber nur noch eine Aneinanderreihung von Erschießungen. Und letzten Endes, wenn man sie auf einen politischen Kern reduziert, bleibt nichts übrig als Bestrafungsaktionen.

Die RAF wußte auch, daß wir diese Aktionen kritisieren. Sie wußte z.B. von mir ausdrücklich, daß ich dagegen bin, daß diese Entwicklung weitergeht, daß Leute abtauchen. Wenn ein Konzept keine Perspektive mehr hat, kann man, selbst wenn man sagt, der Angriff muß aufrechterhalten werden, nicht neue Leute holen. Die stellen sich vor, sie setzen dort den Kampf, den sie in konkreten Basisprojekten gemacht haben, an anderer Stelle fort, gehen aber tatsächlich ins Leere.

Ich will hier kein falsches Bild aufkommen lassen, ich will uns nicht davon abtrennen, wir waren alle Teil davon und haben es getragen. Ich spreche hier zur Verkehrung der Verhältnisse in der Abwicklung des Gefangenenproblems während der letzten Jahre. Wir haben es weitergetragen vom Aufschrei bis zum Verstummen, weil wir eine Kontinuität wollten. Wir waren völlig überbestimmt von den absehbaren Auswirkungen des gesamten Umbruchs und haben gedacht, es muß doch eine Kraft her. Das hat uns die entscheidende Konsequenz versperrt.

KONKRET: Aber widerspricht sich das nicht: Einerseits eine Kontinuität zu wollen, andererseits dagegen zu sein, daß neue Leute in die Illegalität gehen?

Pohl: Es ging nicht um eine Kontinuität der RAF, wie sie bestanden hat, sondern um eine Kontinuität der Inhalte. Der bewaffnete Kampf war doch nicht der Inhalt der RAF. Der Inhalt der RAF war, wenn man es mal auf den Punkt bringt, Befreiung.

KONKRET: Sie kritisieren die Anschläge und Attentate der RAF in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Was war denn vorher besser? Wo sehen Sie einen Unterschied zwischen dem fehlgeschlagenen Versuch, General Kroesen zu töten, und dem Genickschuß auf den Diplomaten von Braunmühl?

Pohl: Sie sprechen da eine Aktion an, wo das unterschiedliche Verständnis aufeinandertrifft. Wir haben Aktionen wie die gegen von Braunmühl Anfang der Achtziger verworfen, als wir durch die Funktion dieses Amts auf einen seiner Vorgänger gestoßen waren, weil für uns dabei das Mittel und der politische Zweck kraß auseinandergefallen wären. Übrigens eben auch aus der Erfahrung derjenigen von uns aus der 77er-Zeit, die als fiktive "Hardliner" besonders beliebt sind. Die Aktionen gegen Kroesen und gegen den Stützpunkt Ramstein erfolgten dagegen im Rahmen der Auseinandersetzung um die Nato-Nachrüstung. Beide waren bestimmt als strategische Aktionen, die angreifen sollten, was unserer Meinung nach den weltweiten Umbruch forciert: die militärische Aufrüstung in den Zentren.

KONKRET: Die Nachrüstung zu verhindern war auch ein Ziel der Friedensbewegung, die im großen und ganzen die RAF-Anschläge strikt abgelehnt hat. Hat Sie das nicht stutzig gemacht?

Pohl: Naja. Es gab ja auch viele, die die Friedensbewegung stutzig gemacht hat. Die Friedensbewegung hat zum Beispiel eine starke nationale Schlagseite gehabt. Sie hat sich vor allem dagegen gewandt, daß der Krieg hier geführt werden soll, und dieser Teil der Friedensbewegung hat sich auch nicht um imperialistische Interessen und Kriegsziele geschert.

KONKRET: Wenn Sie an der Friedensbewegung zu Recht eine nationale Schlagseite kritisieren, dann muß es ihnen doch beim Lesen mancher alter RAF-Texte auch unbehaglich werden. Dort wird Deutschland als US-Kernstaat und als besetztes Land charakterisiert.

Pohl: Das sind Töne, die aus den siebziger Jahren kommen und die ihren Grund in einer fatal verkürzten Analyse hatten: Aus der Tatsache, daß das US-Kapital weltweit führend war und daß die US-Konzerne die deutschen Konzerne dominiert haben, ist geschlossen worden, daß die BRD eine Art US-Kolonie sei. Das war falsch. Aber in unserer Politik hat diese Überlegung nur eine untergeordnete Rolle gespielt.

KONKRET: Aber die Anschläge richteten sich meistens gegen US-Militäreinrichtungen oder US-Militärs.

Pohl: Aber immer im Zusammenhang mit der Nato und der Nachrüstung. Das waren keine Aktionen gegen die USA als Besatzer. Aber ich gebe zu, daß es da in der Linken insgesamt und damit auch in unserem Spektrum offene Flanken gab. Es gab antiamerikanische Blüten, die gingen so weit, daß US-Kultur abgelehnt wurde. Aber wir, ich war damals illegal, haben diesen als Antiimperialismus verkleideten Antiamerikanismus in Gesprächen und bei unseren Kontakten kritisiert. Das hat allerdings manchmal nichts geholfen. Es gibt da sowieso ein falsches Bild davon, wie die Situation von uns und von unserem Umfeld war. Wir haben Anfang der Achtziger auch die RAF nicht verstärken wollen, wir haben Leute, die zu uns stoßen wollten, in die Kämpfe vor Ort zurückgeschickt. Wir wollten Strukturen und politische Prozesse, und zurück kam die Aufforderung, wir sollten Aktionen machen. Den Druck konnten wir damals auch nicht ändern. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß alles läuft, wie man sich das in einem Konzept ausdenkt und vorstellt. Das hat später bei der Zäsur-Debatte ja auch nicht geklappt.

KONKRET: Es gab lange Zeit die Forderung der Gefangenen, in ein oder zwei große Gruppen zusammengelegt zu werden, damit eine Auseinandersetzung untereinander stattfinden kann. Was denken Sie heute, wie es weiterlaufen könnte?

Pohl: Es geht hier nicht um eine abstrakte prinzipielle Ebene. Wir haben es auch nicht mit der Justiz im allgemeinen zu tun, sondern mit der Bundesanwaltschaft und den Staatsschutzgerichten, und wir haben die bekannte Haft- und Prozeßgeschichte. Abgesehen davon geht es den meisten von uns gesundheitlich außerordentlich schlecht, so daß diese Perspektive: zwanzig Jahre und noch ein bißchen mehr, je nachdem wie man sich individuell verhält, für uns keine ist. Wir müssen jetzt Wege zur Entlassung finden.

Und dafür muß es eine Entscheidung geben, die mehr ist als nur Worte. Es muß etwas sichtbar werden, vor allem in unserem Gefangenenstatut: Was macht man mit jemandem, den man in absehbarer Zeit rauslassen will? Der kann seine sozialen Beziehungen nach draußen aufbauen. Entsprechendes muß für uns auch möglich werden. Es muß Kommunikation und Arbeitsprojekte geben können. Wir haben derzeit ja fast keine Kontakte nach draußen. Man muß sich klarmachen, daß dieses Interview eine der ganz, ganz wenigen Gelegenheiten ist, wo ich mit jemandem von draußen zusammenhängend länger sprechen kann. Mein größter Erfolg in meiner ganzen Haftzeit war vor einigen Wochen ein 90-Minuten-Gespräch ohne LKA-Überwachung.

KONKRET: Ist diese Orientierung auf Kommunikation mit Leuten von draußen bei den Gefangenen Konsens?

Pohl: Es geht bei uns hin und her, weil manche meinen, es sei wichtiger, daß wir Zusammenlegung haben und was Gemeinsames veröffentlichen können. Ich war immer der Meinung, daß es viel wichtiger ist, daß aufgemacht wird. Wir sind alleine zu wenige, um weiterzukommen, wir brauchen weiterreichenden Austausch. Es kann auch gar nicht darum gehen, das, wofür vor Jahren das Stichwort "Diskussion" stand, jetzt noch nachzuholen. Natürlich suchen wir Gespräche über ein gemeinsames Interesse, das ist ja klar. Aber Kommunikation mit draußen hat für uns vor allem den Sinn, erste Schritte auf dem direkten Weg zur Freiheit zu finden.

Nachtrag:

"Der Bundesjustizminister wies auf die nach wie vor bestehenden Querverbindungen zwischen den RAF-Terroristen hin, die sich noch in Freiheit befinden, und denen, die in den Gefängnissen sitzen." Als die "Süddeutsche Zeitung" das im April 1991 nach dem Anschlag auf den Treuhandmanager Karsten Rohwedder schrieb und damit die alte Mär von der sogenannten "Zellensteuerung" der Attentate der RAF erneuerte, wußte man im Hause Kinkel - anders als in der bundesdeutschen Öffentlichkeit - bereits sehr gut, was das herausragende Thema dieser "Querverbindungen" war: Zwischen Gefangenen und RAF gab es eine auf verschlungenen Wegen mühselig ausgetragene Kontroverse über die Einstellung des bewaffneten Kampfes. Der Nachricht aus dem Hause Kinkel folgten Razzien, Verschlechterungen der Haftbedingungen für einzelne Gefangene - und ein reichliches halbes Jahr später die Verkündung der "Kinkel-Initiative": "Informationen aus dem Bundeskabinett: Sieben verurteilte Terroristen sollen vorzeitig entlassen werden." Die Rolle der Bösen bekamen diesmal die RAF-Mitglieder draußen zugewiesen. Im "Stern" war damals zu lesen: "Kinkel befürchtet, daß die RAF-Desperados im Untergrund einen letzten, verzweifelten Versuch machen könnten, den Entlassungswilligen einen Strich durch die Rechnung zu machen." Mit der Realität hatte das so wenig zu tun, wie die "Zellensteuerungs"-Behauptung zuvor oder die im Herbst 1993 verbreitete Legende von den "Falken" (zudenen vor allem Helmut Pohl, aber auch Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt gehören sollten), die den bewaffneten Kampf angeblich wieder aufnehmen wollten.

Der Desinformationspolitik von Verfassungsschutz, Bundesanwaltschaft und Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung (KGT) konnten 1992 kurzzeitig authentische Informationen entgegengesetzt werden: Die Justizministerien in Schleswig-Holstein und Niedersachsen genehmigten mehreren Journalisten Interviews mit Gefangenen. Der Frühling war von kurzer Dauer: Was die Gefangenen in Celle (s. z.B. KONKRET 6/92) und Lübeck durften, wurde denen in Köln-Ossendorf, in Bielefeld, in Stuttgart-Stammheim, in Frankfurt oder Aichach noch lange nicht erlaubt. Und parallel zu den Entlassungen von RAF-Gefangenen, die zumeist über zwanzig Jahre gesessen oder die ihre Strafe vollständig verbüßt hatten, wurde die Haftdauer für andere durch die neuen Kronzeugen-Prozesse drastisch verlängert. Auch die Bedingungen für die, die noch inhaftiert sind, wurden eher schlechter als besser: Bei manchen, die in der Presse seitdem als "Hardliner", als die "eigentlichen Drahtzieher des Terrors" ("Spiegel") eingestuft werden, verschärfte man die Briefzensur und versagte Besuchsgenehmigungen. Maßnahmen, die eine Auseinandersetzung von Gefangenen mit "draußen" ermöglichen könnten, stehen schon lange nicht mehr auf der Tagesordnung.

Das hier veröffentlichte Gespräch mit Helmut Pohl ist seit langem das erste, das von einem Landesjustizminister genehmigt worden ist: Die Prozedur, vom Antrag über ein erstes Vorge-spräch mit der Knastleitung, die Verhandlungen mit der Ministerialbürokratie bis zum Gespräch, dauerte Monate. Vor allem unsere Forderungen, das Interview nicht unter Polizeiaufsicht führen zu müssen und ein Aufnahmegerät benutzen zu dürfen, stießen auf Widerstand der Bundesanwaltschaft. Kay Nehm und seine Leute möchten das Informationsmonopol über das, was die Gefangenen angeblich denken, gerne behalten - um so ad libitum "Hardliner"-Fraktionen gründen und wieder auflösen zu können. Die Ministerien anderer Bundesländer, die Interviewanträge auch von Medien, die sich um die Staatssicherheit durchaus verdient gemacht haben, immer noch strikt abblocken, sind dabei gerne behilflich.

In Berlin hat anläßlich des 20. Todestages von Ulrike Meinhof ein erstes öffentliches Gespräch unter Leuten stattgefunden, die an der Gründung der RAF beteiligt waren oder die sie damals politisch kritisiert haben. Das war ein wichtiger Ansatz, den fortzuführen dadurch erheblich erschwert wird, daß noch etliche, die in den Jahren nach den ersten Verhaftungen den bewaffneten Kampf fortgeführt und damit linke Politik nachhaltig beeinflußt haben, auf Jahre hinaus im Knast sitzen. Das Gespräch mit Helmut Pohl, das einen Einblick in die strategischen Auseinandersetzungen zwischen RAF und Gefangenen im Vorfeld der Zäsur des Jahres 1992 ermöglicht, ohne den Anspruch zu erheben, "die Wahrheit" über die bewaffnete Politik der 80er Jahre zu enthüllen, ist deswegen als Anstoß gedacht, die Situation in den Knästen auf die Tagesordnung zu setzen: damit endlich eine offene Debatte über diese Phase linksradikaler Politik stattfinden kann.

Helmut Pohl wurde 1998 nach seiner Begnadigung durch Bundespräsident Roman Herzog schwerkrank aus der Haft entlassen.

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