Wie kommt die Kuhscheiße vom Dach?

09.04.1991 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Legale Linke

Der Golfkrieg ist zuende, ein verbrecherischer Krieg, mit Verletzungen der Genfer Konvention und des Völkerrechts auf beiden Seiten: Der Irak hat ein Land angegriffen, Israel, das nicht kriegsführende Partei war; die USA haben mit der Bombardierung eines irakischen Atommeilers das getan, was hierzulande als besonders niederträchtiges, menschenverachtendes Vorhaben "Terroristen" aller Art gern unterstellt wird. Im Verlauf des Krieges wurden wahrscheinlich zehntausende Irakis getötet, und wenig spricht gegen die Vermutung, daß auch in diesem "chirurgisch geführten" Krieg die meisten Toten unter der irakischen Zivilbevölkerung zu beklagen sind: Sie waren den alliierten Kriegsherren und dem irakischen Staatschef gleichermaßen nur "Masse". Dem Irak droht jetzt ein Schicksal, wie es dem Libanon seit Jahren beschiedenist (ohne daß das die Metropolen-Linke im allgemeinen nennenswert interessierte): eine Intensivierung des Nationalitäten- und Religionsstreits in dem zerstörten, verarmten Land ist allemal wahrscheinlicher als des-sen Befreiung von einem terroristischen Regime.

Der Golfkrieg ist zuende, die Golfkrise bleibt. Denn nichts ist zur Lösung der drängenden Fragen in der Region getan worden, stattdessen wird das Tempo der Politik, kaum ist der Sieg errungen, spürbar gebremst: Die Palästinenser und die Kurden bleiben ohne Staat, die Situation in den von Israel annektierten Gebieten verschärft sich ebenso wie die israelfeindliche Stimmung in den arabischen Staaten, die keineswegs demokratisch legitimierten oder die Menschenrechte respektierenden Regimes in Syrien, Saudi-Arabien, in Jordanien oder im Iran bleiben, die Konflikte zwischen den reichen Öl-Staaten und den bevölkerungsreichen, armen Ländern in der Region sind durch die Zerschlagung der irakischen Militärmacht ebenfalls nicht gelöst.

Der Golfkrieg ist beendet, die Golfkrise bleibt. In KONKRET 12/90 und KONKRET 1/91 war sie Anlaß für Jan Philipp Reemtsma und Hermann L. Gremliza über "the bad and the ugly" und "...and the good?" nachzudenken. Reemtsma argumentierte, daß mit dem "Globalwerden der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung" die Linke nicht nur ihren Bezugsrahmen verloren, sondern überhaupt aufgehört habe zu existieren. Für die Golfkrise bedeute das, so Reemtsma, daß die Parole "Amis raus aus Saudi-Arabien!" "unbehaglich (ist), (weil) man nicht recht weiß, was man - abgesehen davon, daß es nicht zum Krieg kommen möge - den Einwohnern der betreffenden Region wünschen möchte: von den USA oder von Saddam Hussein dominiert zu werden. Ich persönlich zöge ... die erste Möglichkeit vor."

Gremliza konstatierte in seiner Antwort, daß der Fortfall des Bezugsrahmens "die Saddams dieser Welt" nicht verändert habe, wohl aber die Bedingungen, unter denen sie Politik machen: "Nun da sie allein gegen One world stehen, ist mit ihrem Bezugsrahmen ihre Zurechnungsfähigkeit vollends abhanden gekommen ... Entsprechend (sind) ihre Mittel: Wunderwaffen` und Terror." "Wir" dürften angesichts des Wegfalls des weltgeschichtlichen Bezugsrahmens aber nicht "die Partei des Hausmeisters (ergreifen), der um Ruhe bittet". Statt nach "dem Guten zu suchen", den es nicht gebe, gelte es "die Partei der Aufklärung" zu sein, "zu fragen, wie die Kuhscheiße aufs Dach gekommen ist, ohne Rücksicht darauf, ob es noch einer wissen will und was er mit diesem Wissen macht."

Aufschlußreich an diesen Überlegungen linker Intellektueller, die sich im Nachhinein als Vorbereitung ihrer Zustimmung zum Krieg gegen den Irak als das (wenn auch falsche) Richtige lesen, ist, daß sie kein Wort über Israel verlieren, keines über die Verknüpfung der Kuwait-Annexion mit der Palästinenserfrage und keines über die damals bereits angekündigte Bedrohung des jüdischen Staates durch den Irak. Beide Autoren entwickeln ihre Haltung zur Golfkrise aus einer Betrachtung der Auflösung des real existierenden Sozialismus. Sie schauen von Europa aus in die Welt - und es graut ihnen. Sie räsonieren bitter über die existierende One world - ihre wahre Angst und Verachtung gilt aber verblüffenderweise nicht deren Konstrukteuren, Profiteuren und Machthabern. Jan-Philipp Reemtsma persönlich zöge es vor, von den USA statt von Hussein dominiert zu werden (vorsichtshalber, aber ohne erkennbare Folgen für seine Position räumt er ein: "möglicherweise aufgrund eines klassenspezifischen sowie weltregional bedingten Vorurteils"); Gremliza erklärt die Regierungen des Südens kurzerhand zu "Saddams dieser Welt" und spricht ihnen für die Zukunft pauschal die Zurechnungfähigkeit ab. Ihre tatsächlichen und künftigen Kämpfe, nicht etwa die Überfälle und Invasionen der US-Administration, erscheinen aus dem Blickwinkel der Metropole gesehen als der die Menschheit bedrohende "Terror" (im März schreibt Gremliza, diese Umwertung konsequent durchhaltend, den verzweifelten Opfern die Rücksichtslosigkeit künftiger Taten zu - "morgen eine Bombe im Atomreaktor von Stade" , die die US-Air Force gerade tatsächlich gezeigt hat, als sie einen in Betrieb befindlichen irakischen Reaktor zerstörte).

Gremliza weiß und schreibt davon, daß es eine Verantwortung des Nordens für die verzweifelte Lage des Südens gibt. Aber es ist eine Verantwortung ohne Adressaten, es ist nicht seine, nicht unsere, nicht einmal "unsere", sondern nur "die Verantwortung jener, die...". Die Verantwortung, für die niemand so richtig in die Pflicht genommen werden kann, ist eine Verantwortung, aus der keine Konsequenzen erwachsen. Der Intellektuelle in den Metropolen konstatiert das Elend der Welt, kennt seine Ursachen oder Bedingungen - und stellt sich außerhalb, ergreift "die Partei der Aufklärung", einer "Aufklärung", deren schlichtes Programm mehr mit der sexuellen Reformation und der Frage: Wo kommen denn die Kinder her?, zu tun hat als mit der gleichnamigen Bewegung, die mit der Französischen Revolution einen Triumph feierte. Das vor allem verhindert, daß ihre Dialektik erkannt und reflektiert wird: Die westliche Zivilisation, deren Mißlingen durch die planvolle und industrielle Vernichtung der Juden durch die deutschen Nationalsozialisten evident geworden ist, wird so stillschweigend und folgenreich rehabilitiert und durch das Herausputzen ihrer Erfolge konsensfähig gemacht. Angesichts des Nord-Süd-Konflikts, der auch ein Kulturkonflikt ist, erscheinen so, in der Alternative "... oder Barbarei", "die anderen" als die Barbaren (das spricht selbstverständlich nicht für die andere, gerade nach dem Schah-Sturz im Iran von linken Gruppen häufig eingenommene Extremposition, derzufolge Menschenrechtsverletzungen kein Problem sind, weil das in anderen Kulturen` halt so sei).

Aufklärung wird, aufs Unwesentliche reduziert, zum Konsum-Artikel für die Metropolen: für 6.80 DM zu haben, ihren Produzenten ist es egal, ob sie gelesen wird, wer sie liest und wozu, den Konsumenten ist sie ein Vergnügen (oder ein Ärgernis) - mehr nicht. Die Aufklärung führt, indem sich so die Beobachtungen, Anmerkungen und Argumente der linken Melancholiker mit ihrer Resignation zu einem gordischen Knoten verwirren, zu einer stillschweigenden Übereinkunft mit dem herrschenden Unrechtssystem: Es wird zwar weiterhin kritisiert, aber das praktische Engagement dagegen ist wg. Wegfall "unserer" Geschäftsgrundlage aufgegeben.

Die Beschwörung des weltgeschichtlichen Bezugsrahmens, der auch nicht gestaltet werden, sondern einfach nur da sein mußte, erweist sich als Versuch, sich eine Entlastungskonstruktion zu zimmern: Früher hat sie "uns" von der Kritik an den Verbrechen und Vergehen der realsozialistischen Staaten entlastet - der Einmarsch in die CSSR und in Afghanistan, die Psychatrisierung von Oppositionellen und die Suspendierung jeglicher demokratischer Öffentlichkeit ließen sich so stillschweigend übergehen oder gar rechtfertigen. Der Handlungsspielraum war ja abgesteckt - die "bloße mächtige Existenz" des realen Sozialismus reichte aus, den irreversiblen Triumph des Kapitalismus aufzuhalten, das eigene Handeln durfte ihn deswegen unter keinen Umständen gefährden oder gar infrage stellen, es blieb ohne eigene Richtung und durch ihn bestimmt. Das Besondere an dieser Entlastungskonstruktion ist aber, daß sie heute noch trägt, obwohl der realexistierende Sozialismus bereits als verschwunden gilt: Ohne ihn ist jede Richtung und jedes Ziel verloren, eine eigene Haltung zu entwickeln scheint ohne Sinn.

Das Selbst-Bewußtsein, das so resigniert, gibt sich, und damit weiterhin seine Freiheit auf. Das Arrangement mit den herrschenden Verhältnissen läßt dann aber auch eine Aufklärung, die diesen Namen verdiente, nicht mehr zu.

Die grundsätzlich veränderten Bedingungen, unter denen wir handeln, verlangen allerdings eine neue Auseinandersetzung mit unserer Politik und unserer Moral, die auch zur Aufgabe haben müßte, eine Kritik der überkommenen konservativen Praxis zu liefern - es gibt kein erprobtes System, das uns eine Richtschnur dafür liefert. "Moral und Politik versöhnen heißt also den Menschen mit sich selbst versöhnen. Das erfordert allerdings, daß er auf jene Sicherheit verzichtet, die er sich von der Einschließung in die reine Subjektivität der traditionellen Moral oder in die Objektivität der realistischen Politik erhoffte" (Simone de Beauvoir). Für uns in den Metropolen, die wir, ob willentlich oder nicht, von der Ausplünderung der südlichen Länder profitieren, heißt das, zuerst einmal unser Denken und Handeln radikal in Frage zu stellen: Wie werden wir zu Mittätern?

Der Golfkrieg war, davon können diese Überlegungen allerdings nicht ablenken, aber nicht nur ein imperialistischer Krieg (das war er allerdings auch, und die Folgen, die die Befreiung der USA vom Vietnam-Trauma für die antiimperialistischen Bewegungen, vor allem, aber sicher nicht nur, in Lateinamerika haben wird, sind leider nur allzu gut vorstellbar, zumal sich mit diesem Krieg in bisher unbekannter Weise auch die UNO, die ehedem auch ein Forum für die kleinen und unterdrückten Nationen war, zum leicht handhabbaren Instrument für die Weltmacht-Interessen hat machen lassen). Es war auch ein Krieg, in dem wir mit der deutschen Geschichte (und damit mit dem Scheitern des linken Antifaschismus) konfrontiert wurden - und das Fortdauern dieser Krise und jedes Aufflackern eines neuen Konflikts in dieser Region wird uns dem erneut aussetzen.

Gremliza hat mit seinem Kommentar "Richtig falsch" darauf reagiert - und zwar anders, als er es zwei Monate zuvor angekündigt hatte: Er nannte nicht nur die Ursachen dafür, "daß die Kuhscheiße aufs Dach gekommen ist", er behauptete auch, daß sie dort nicht hingehöre, und engagierte sich für den us-amerikanischen Plan, nach dem sie vermeintlich wieder herunterzuholen wäre. Gremliza klärte nicht nur auf, sondern ergriff, wenngleich zögerlich und mit etlichen Bedenken, Partei für die Alliierten, die seiner Meinung nach möglicherweise Israel aus einer akuten Bedrohung gerettet haben - indem er sich zwar nicht für ihr konkretes Vorgehen, wohl aber für den angeblichen "richtigen Zweck ihres Krieges" aussprach. Damit brachte er sich nicht nur in latenten, sondern auch in offenen Widerspruch zu seinem vorangegangen Text: "Die Partei, die wir` zu ergreifen hätten, kann nicht die des George Bush sein, die eben auch Helmut Kohls Partei und also die großdeutsche ist; selbst dann nicht, wenn man (wie Reemtsma) von ihrem Sieg weniger schreckliches befürchtet, als von dem ihres Gegners."

Befremdlich mutet dieser Wechsel in der Haltung an, weil er sich wieder so selbstverständlich mit dem, diesmal kurzfristig und durch die Kriegspartei USA erst geschaffenen Bezugsrahmen abfindet: Daß viele Menschen sterben müssen, damit andere leben können, beispielsweise, war in der Golfkrise keineswegs zwingend angelegt, es ist zur Tatsache erst durch den Kriegsbeginn geworden. Gremliza argumentiert realpolitisch im schlechten Sinne - und gerät damit in fatale Nähe zu Positionen, wie sie beispielsweise Wolfgang Pohrt formuliert hat: Wird ersteinmal ohne eine äußerst genaue Analyse der Krieg als legitimes Mittel akzeptiert, fällt es schwer, sich den weiteren "logischen" Konsequenzen zu entziehen: Wenn die US-Militärs zur Entwaffnung des Irak einen flächendeckenden Einsatz von Napalm oder gar von taktischen Atomwaffen für nötig gehalten hätten - wie könnte jemand, der den Krieg zu diesem Zweck für gerechtfertigt hält, dagegen noch argumentieren? "Der Realist macht sich eine falsche Vorstellung von der Beziehung zwischen Mittel und Zweck: Er hält den Zweck für ein erstarrtes, über sich geschlossenes Ding, getrennt vom Mittel, das ebenfalls als ein Ding, als ein simples Instrument definiert wird ... der angestrebte Zweck ist (aber) immer eine menschliche Situation, mithin ein sinnvolles Faktum; die Handlungen, die diese konstituieren, haben also gleichzeitig ein Ding zu schaffen und diesem einen Sinn zu geben; wenn das Ding sinnlos ist oder wenn der Sinn sich nicht verkörpern konnte, ist das Scheitern gleichermaßen total." (S. d. Beauvoir)

Anders als bei der Befürwortung eines Vergeltungsschlages Israels gegen deutsche Rüstungsfirmen, der jederzeit zweckmäßig wäre, ist, wer zum gleichen an sich überzeugenden Zweck wie Gremliza in den Metropolen für diesen Krieg gegen den Irak Partei ergriffen hat, aber noch aus einem anderen Grund gescheitert: Der Versuch, aus der deutschen Vergangenheit richtige Konsequenzen für einen von uns direkt kaum beeinflußbaren Konflikt im Nahen Osten zu ziehen, war untrennbar verknüpft (und wird es in absehbarer Zukunft bleiben) mit der Verfestigung der Ausbeutung der Länder des Südens. Der späte antifaschistische Gestus des deutschen Intellektuellen in diesem Krieg kam, auch gegen den Willen derer, die ihn eingenommen haben, zur Deckung mit dem Gestus des Profiteurs des wieder zu sich selbst findenden Imperialismus.

Diese aus dem Doppelcharakter der Auseinandersetzung resultierende Zerrissenheit läßt sich durch entschiedene Parteinahme für das angeblich im Falschen verborgene Richtige nicht überdecken, ihr läßt sich auch nicht durch untätig bleibende Aufklärung entkommen: Sie kann nur angenommen und immer wieder aufs Neue reflektiert werden. Das daraus erwachsende Engagement kann sinnvoll seine Mittel zum Zweck nur am Ort, an dem die Verbrechen geplant und wo von ihnen profitiert worden ist und wird, also hier, anwenden: Die historische und aktuelle Verantwortung für die deutschen Verbrechen - die den wesentlichen Bezugspunkt für eine deutsche Linke darstellt (heute, wie vor vierzig Jahren) - kann zur Konsequenz nur das unbedingte Bemühen haben, das Aufstreben der Großmacht Deutschland, so gut es geht und auf allen Ebenen, zu stören oder gar zu verhindern und gleichzeitig zu versuchen, den bis weit in die Linke reichenden volksgemeinschaftlichen Konsens dieser Gesellschaft, der heute noch vor allem die ins Visier nimmt, die auch die Opfer des NS-Regimes waren - Juden, Roma und Sinti, Behinderte - zu zerstören.

Solange in Deutschland Antisemitismus virulent ist, zu Taten drängt - in allen Schichten und Fraktionen der Gesellschaft, und ohne daß es eine nennenswerte Gruppe gäbe, die die Sache der Juden zu ihrer machen würde , sind die vollmundigen, von keinem spürbaren Zweifel geplagten Erklärungen und Ratschläge, was der Existenz Israels, oder, wie es bewußt vage heute vorzugsweise heißt, "eines jüdischen Staates", nütze und was nicht, wie sich die Israelis verhalten sollten, um in den besonderen Genuß deutscher Solidarität zu kommen, und wie auf keinen Fall, so deplaziert wie sonst nichts. Diesem immer wieder auch von Linken unternommenen Versuch, sich aus der deutschen Geschichte zu verabschieden, kann aber nicht durch einen beherzten Schritt, der zur Befürwortung einer imperialistischen Aggression führt, begegnet werden. Das Engagement gegen Antisemitismus und das gegen den ebenfalls in verschiedenen Formen allgegenwärtigen und zunehmenden Rassismus lassen sich hierzulande nur um den Preis eines Abschieds von jeglicher emanzipatorischen Moral gegeneinander entwickeln.

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