Chirurgische Schläge ohne Narkose

06.06.1999 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Internationales Recht

Veröffentlicht in: Konkret 06 / 99, S. 46: Militärs bomben gerne und erfolgreich, weil es für den Luftkrieg keine rechtlichen Grenzen gibt

"Nun könnten menschenfreundliche Seelen sich leicht denken, es gebe ein künstliches Entwaffnen oder Niederwerfen des Gegners, ohne zuviel Wunden zu verursachen, und das sei die wahre Tendenz der Kriegskunst. Wie gut sich das auch ausnimmt, so muß man doch diesen Irrtum zerstören, denn in so gefährlichen Dingen, wie der Krieg eins ist, sind die Irrtümer, welche aus Gutmütigkeit entstehen, gerade die schlimmsten. Da der Gebrauch der physischen Gewalt in ihrem ganzen Umfang die Mitwirkung der Intelligenz auf keine Weise ausschließt, so muß der, welcher sich dieser Gewalt rücksichtslos bedient, ohne Schonung des Blutes bedient, ein Übergewicht bekommen, wenn der Gegner es nicht tut. Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, und es gibt in der Anwendung derselben keine Grenzen." (Carl von Clausewitz. Vom Kriege (1832))

Im August werden sie 50, so alt wie die Nato: Die vier Genfer Abkommen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet und ratifiziert worden sind, um das Paradoxe zu erreichen. Zusammen mit den nochmal gute vierzig Jahre älteren Regelungen der Haager Landkriegsordnung sollten sie dazu beitragen, den Krieg zu zivilisieren. So erfolgreich wie die Nato hat sich das internationale Kriegsrecht, das heute vornehm als "humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten" bezeichnet wird, allerdings nicht durchsetzen können. Das ist einerseits nicht erstaunlich, hat doch, wer einen Krieg beginnt, gerade die Ebene der förmlichen politischen Auseinandersetzungen verlassen, um auf anderem Wege sein Ziel zu erreichen. Andererseits werden militärische Auseinandersetzungen, vom Koreakrieg über Kriege in Mocambique, Somalia, am Golf und jetzt in Jugoslawien immer häufiger im Namen der UNO oder zur Sicherung der Menschenrechte geführt, beanspruchen also, "gerechte Kriege" zu sein - ein Anspruch, der sich mit der Idee des rücksichtslosen, nur auf Sieg bedachten Krieges schlecht verträgt.

Eine Form des Krieges, die in besonderem Maße rücksichtslos ist und vor allem auch die Zivilbevölkerung in der attackierten Region in Mitleidenschaft zieht, ist der Luftkrieg: Flugzeuge können Ziele anfliegen, die sonst unerreichbar sind, ihre Bomben bergen ein weitaus größeres Vernichtungspotential in sich als andere Waffen. Der Luftkrieg ist auch immer schon ein High-Tech-Krieg: Wer ihn führen will braucht eine hochentwickelte Rüstungsindustrie und viel Geld, um die Waffensysteme auch kaufen zu können. Deswegen waren es zumeist die Länder, die ärmer waren, oder denen, wie im Ersten Weltkrieg das bis dahin als sichere Insel geltende Großbritannien, die Luftwaffe anderer Staaten erhebliche strategische Nachteile bereiten konnten, die versuchten, den Luftkrieg durch rechtliche Regelungen zu begrenzen.

Am weitesten gediehen war 1923 das von den Vertragsparteien der Haager Landkriegsordnung ausgehandelte Haager Abkommen, das "Regeln des Luftkrieges" kodifzierte: Es wurde zwar von allen großen Staaten unterzeichnet, schließlich aber von keinem einzigen Staat ratifiziert. Das in Artikel 24 enthaltene Verbot, Städte, Dörfer oder Gebäude zu bombardieren, die sich nicht unmittelbar in der Nähe von kämpfenden Landstreitkräften befinden, wurde von den Militärs als zu große Einschränkung empfunden. Und auch eine ausdrückliche Eingrenzung der Bombardierungsobjekte auf genau definierte militärische Ziele wie Waffenfabriken, Kasernen oder militärische Kommunikationseinrichtungen schien den Vertragsparteien schließlich nicht akzeptabel.

Nicht überraschenderweise wurde der Zweite Weltkrieg als besonders brutaler Luftkrieg geführt, dem letztlich keine Regeln galten, und jedes Ziel, das erreicht werden konnte, wurde auch bombardiert: Die ersten Luftangriffe, die sich unterschiedslos gegen Zivilisten und Militär richteten, wurden von der Reichsluftwaffe gegen Warschau, Rotterdam, Belgrad, Coventry und London geflogen. Aber auch die Westalliierten entschieden sich ab 1942 für Flächenbombardements gegen deutsche Städte und schließlich den Atombombenabwurf über Japan. Folgerichtig verzichtete die Anklage in dem Nürnberger Prozessen darauf, die deutschen Bombardements als Kriegsverbrechen zu verhandeln: "Die Ruinen der deutschen und japanischen Städte waren nicht das Ergebnis von Vergeltungsmaßnahmen der Alliierten, sondern von eigenständigen Entscheidungen, und sie bezeugen, daß das Flächenbombardement von Städten anerkannter Bestandteil der modernen Kriegsführung, wie sie von allen modernen Nationen ausgeübt wird, ist" (US-Brigadegeneral Telford Taylor, Chefankläger, in seinem Abschlußbericht zu den Kriegsverbrecherprozessen 1949).

Das Internationale Rote Kreuz mochte nicht anerkennen, daß die unterschiedlose Bombardierung von Zivilisten und Militärs künftig anerkanntes Kriegs-Gewohnheitsrecht sein sollte. Im Zuge des Versuchs, mit den Genfer Konventionen die Kriegsführung allgemein zu zivilisieren, unternahm es deswegen besondere Anstrengungen, den Luftkrieg zu reglementieren. Pierre Boissier, Verhandlungsführer des IRK auf mehreren Konferenzen, illustrierte das Anliegen an einem Beispiel: Wenn ein Armeeoffizier, dessen Truppen in einem feindlichen besetzten Dorf beschossen werden, 25 Zivilisten in einem Dorf exekutieren läßt, verstößt er gegen das Landkriegsrecht und wird als Kriegsverbecher bestraft. Fordert er dagegen ein Bomberkommando an, um das gesamte Dorf einzuäschern, weil er dort noch ein feindliches Geschütz vermutet, handelt er rechtmäßig, weil es keine Regeln für den Luftkrieg gibt und "kollaterale Schädigungen" erlaubt sind.

Die IRK-Initiativen der 50er und 60er Jahre zur Etablierung eines Luftkriegsrechts, das an die Haager Regeln von 1923 anknüpft, scheiterten aber allesamt - vor allem weil die USA sich kategorisch weigerten, auf den strategischen Vorteil zu verzichten, den ihr die hochentwickelte US Airforce verschaffte. Flächenbombardierungen in Vietnam, der Einsatz von Kampfgasen und Napalm erhitzten zwar international die Gemüter - das einzige Gericht, das sich der verlustreichen Luftkriegsführung aber annahm, war das von Bertrand Russell initiierte "Vietnam-Tribunal".

Nach Ende des Vietnamkrieges und nach jahrelangen Verhandlungen erzielten die Befürworter eines "modernen" Kriegsrechts einen Durchbruch: 1977 wurden die Zusatzprotokolle I und II zu den Genfer Abkommen beschlossen. Bislang sind 120 Staaten den Abkommen beigetreten. Auch die US-Delegation hat die völkerrechtlichen Verträge unterzeichnet - schließlich aber, nach heftigen Protesten des Pentagon, nicht ratifziert (ebenso wie u. a. auch Frankreich). Zwar regeln auch diese Zusatzprotokolle nicht ausdrücklich den Luftkrieg; Zusatzprotokoll I bezieht in seinen Bestimmungen über den Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte Angriffe aus der Luft nur implizit ein, ohne ausdrückliche Erwähnung. Vor allem das in Artikel 51 des Zusatzprotokolls enthaltene Verbot von Angriffen, bei denen auch mit Verlusten unter der Zivilbevölkerung zu rechnen ist, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen, halten die USA für eine unzulässige Einschränkung der Handlungsfreiheit ihrer Streitkräfte. Neben diesem "Proportionalitäts"-Argument lehnen die Kriegsrechts-Experten der USA auch den Grundgedanken des Zusatzprotokolls I ab, wonach der Angreifer verhindern müsse, daß die Zivilbevölkerung und zivile Objekte getroffen würden: Kontrolle über die Zivilbevölkerung habe schließlich die angegriffene Nation, sie müssen mithin dafür Sorge tragen, daß die Zivilisten aus gefährdeten Regionen und aus der Nähe militärisch wichtiger Objekte evakuiert und dadurch vor "kollateraler Schädigung bzw. Zerstörung" bewahrt würden. Werde die Verantwortung für die Zivilbevölkerung dagegen dem Angreifer aufgebürdet, der die Bombardements ausführe, werde dieser benachteiligt: Militärische Ziele in der Nähe von zivilen Einrichtungen könne er faktisch nicht mehr anfliegen.

Die Weigerung der USA, diese Luftkriegsregelungen zu ratifizieren, wird von manchen Völkerrechtsspezialisten als unbedeutend eingestuft, weil andere Nato-Staaten, auch die Bundesrepublik sie unterzeichnet hätten und diese Anerkennung die Regeln zu völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht machten, das auch die USA anerkennen müsse. Sowohl die Konzeption der Einsätze im Golfkrieg als auch die Strategie des Luftkriegs gegen Jugoslawien zeigen dagegen, daß die Regelungen des Zusatzprotokolls I faktisch wirkungslos sind.

Im Golfkrieg 1991 ist vor allem der "Proportionalitäts-Grundsatz" nicht eingehalten und der Schutz der Zivilbevölkerung einseitig zur Aufgabe Saddam Husseins erklärt worden: Die gezielte Zerstörung des überwiegend von Zivilisten aufgesuchten Amirya Bunkers und der Angriff auf einen zivilen Konvoi zwischen Kuwait und Irak kurz vor Ende des Krieges stellten massive, aber nie geahndete Verstöße gegen das Genfer Zusatzprotokoll I dar. Auch die weitgehende Zerstörung der irakischen Stromversorgung, die nach Berechnungen der Universität Harvard mittelbar und langfristig den Tod von 170.000 irakischen Kindern zur Folge hatte, wird als Verstoß gegen diese Regeln gewertet.

Der Luftkrieg zeigt sich so, gerade mit Blick auf die Einsätze der größten Luftstreitmacht der Welt, der USA, als "weißer Fleck" im internationalen Recht. Das ungeschriebene Gewohnheitsrecht des Krieges kann mit den stets neuen technischen, taktischen und strategischen Entwicklungen, die gerade den Luftkrieg prägen, nicht mithalten. Nicht einmal das einzige, nach dem Zweiten Weltkrieg anerkannte gewohnheitsrechtliche Prinzip, daß nicht absichtlich zivile Ziele um ihrer selbst willen angegriffen werden sollen, entfaltet derzeit Wirkung: Zwar sind die modernen Waffensystem ungleich zielgenauer als die alten. Die geringere Fehlerquote von lasergeleiteten Raketen (15 Prozent gegenüber 75 Prozent bei traditionellen, "dummen" Bomben) kommt der Zivilbevölkerung aber kaum zugute, denn die Militärplaner haben ihre Ziellisten gleichzeitig verfeinert und ausgeweitet. Im Golfkrieg wurden erstmals in großem Maßstab zivile Strom- und Wasser-Versorgungseinrichtungen absichtlich zu militärischen Zielen erklärt und dann attackiert. Im Krieg gegen Jugoslawien haben die Nato-Staaten neben der Stromversorgung und Gebäuden der politischen Parteien einmütig auch das serbische Fernsehen als Teil der Machtstruktur des Staates bezeichnet und damit als Ziel qualifiziert, dessen Zerstörung durch den Grundsatz der "militärischen Notwendigkeit" gerechtfertigt sei. Mit dieser Ausweitung des Begriffes "militärisches Ziel" versucht die Nato offensichtlich, die Tradition des totalen Bombenkrieges, wie er im Zweiten Weltkrieg üblich war, mit den Möglichkeiten des selektiven Bombardements, wie sie heute durch die neuen technischen Entwicklungen möglich sind, zu kombinieren. Inwieweit dieses Vorgehen , dem derzeit kein Land militärisch widerstehen kann, auch politisch und moralisch legitimiert wird, wird sich unter anderem bei den Verhandlungen des Internationalen Gerichtshof in Den Haag erweisen: Die Bundesrepublik Jugoslawien hat wegen einer Vielzahl von Handlungen der Nato Klage gegen die am Krieg beteiligten Mitgliedstaaten erhoben. Ein Punkt ist auch der Angriff auf den Belgrader Fernsehsender, der nicht nur als Luftangriff auf ein nach bisher üblicher Sichtweise ziviles Ziel problematisch ist, sondern auch, weil Journalisten durch Artikel 79 des Zusatzprotokolls I besonders geschützt werden. Wird diese Bombardierung nicht verurteilt, werden in künftigen Kriegen die Reporter und Medien, die negativ über Angriffe berichten, auf der Liste der Luftkriegsziele ganz nach oben rücken. Über die Bombardierung von Flüchtlingstrecks, von Krankenhäusern und zivilen Wohngebieten wird es dann wohl lange keine Informationen mehr geben.

Daß gerade die Staaten, die immer wieder lauthals betonen, im Interesse der Menschenrechte zu intervenieren, die unter anderem angetreten sind, Kriegsverbrecher vor das Ad-hoc-Tribunal der Vereinten Nationen zu bringen und die mit Verve (und zum Teil auch zu Recht) Grausamkeiten des Gegners anklagen, nicht bereit sind, wenigstens Minimalstandards für die eigene Kriegsführung anzuerkennen, läßt das Humanitäre ihres Engagements in recht fahlem Licht erscheinen. Daß sie die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes für die Aburteilung der von ihnen selbst begangenen Verbrechen ablehnen, ist zwar nicht erstaunlich - die USA wurden zuletzt 1986 wegen ihres militärischen Engagements für die Contras in Nicaragua verurteilt, erkannten das Urteil aber nicht an - nimmt ihnen aber doch die Legitimation für diesen angeblich "gerechten Krieg".

Die ständig verschärften Luftangriffe der Nato ziehen die Bevölkerung massiver als jeder andere Kampfeinsatz in Mitleidenschaft - und das mit Absicht: Die Demoralisierung der gegnerischen Gesellschaft ist, auch im Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien, ein ausgesprochenes Kriegsziel. Angesichts dessen mutet die gegenwärtig oft geäußerte Ansicht, die den Luftkrieg als humanitäre Sofortintervention akzeptiert, den Bodenkrieg dagegen als zu blutige Eskalation ablehnt, eigentümlich an: Im Bodenkrieg treffen tatsächlich Miltärs auf Militärs. Die Opfer sind in diesem Fall zu einem erheblich größeren Teil die Kombattanten beider Seiten - ein Grund, weswegen die Generäle ihn so ungern führen. Zudem gelten für den Landkrieg tatsächlich eine Reihe anerkannter rechtlicher Regelungen. Human wird der Krieg auch als Landkrieg nicht. Und auch nicht gerecht, wenn er gegen das Verbot des Angriffskrieges verstößt. Aber es träfe wenigstens häufiger die richtigen Ziele.

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