Das Prinzip Kopftuch
24.09.2003 | AutorIn: Dr. Oliver Tolmein | Deutschland aktuell
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - wesentlich unklar
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht einer muslimischen Lehrerin ihr Kopftuch im Unterricht zu tragen irritiert: Nicht wegen ihres Gehalts, sondern wegen ihrer Zurückhaltung. Die Mehrheit des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit diesem Richterspruch einen anderen Weg beschritten, als es Bundesgerichte sonst gelegentlich tun, wenn sie, wie beispielsweise im Fall der Sterbehilfe, mit Grundsatzentscheidungen eine völlig neue Rechtslage schaffen, ohne dass der Gesetzgeber dafür auch nur eine einzige Rechtsvorschrift hätte ändern müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sein jetziges Urteil als Akt richterlicher Selbstbescheidung präsentiert. Die Verfassungsrichter haben ausdrücklich darauf verzichtet, einen eigenen Weg zu weisen, der zu einer Lösung des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnerinnen eines Trageverbots für Kopftücher in der Schule führen könnte. Sie haben lediglich festgestellt, dass das baden-württembergische Schulgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung keine Dienstpflicht enthält, die Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs während des Unterrichts verbietet.
Die Konsequenz dieser Zurückhaltung ist allerdings irritierend: Die Richter des höchsten deutschen Gerichts halten nämlich einerseits der baden-württembergischen Landesregierung vor, sie verletze angesichts der gegenwärtigen Rechtslage die Grundrechte von Frau Ludin, indem sie sie wegen ihres Kopftuches nicht als Lehrerin einstellen. Gleichzeitig geben sie Frau Ludin aber nicht wirklich Recht: Sie gestehen ihr nicht zu, dass sie ein aus der Verfassung abzuleitendes, grundsätzliches Recht hat, das Kopftuch zu tragen. Stattdessen entwickeln die Verfassungsrichter ein Zukunftsszenario: Auf der Basis eines Landesgesetzes, das erst noch geschaffen werden müsste, soll es demnach möglich sein, Lehrern strikte religiöse Neutralität zu verordnen. Das könnte dann künftig auch den Verzicht auf jedes Zurschaustellen von Symbolen ihres Glaubens als Ausdruck ihrer Dienstpflicht erzwingen. So könnte Frau Ludin in Zukunft möglicherweise auch verwehrt werden, als Lehrerin in der Schule das Kopftuch zu tragen.
Das Kalkül des Bundesverfassungsgerichts liegt klar zutage. In einem der schärfsten innenpolitischen Konflikte, der Frage, wie Menschen anderer Herkunft und nicht-christlichen Glaubens zu integrieren sind, will sich das höchste deutsche Gericht nicht eindeutig positionieren. Das mag als legitime Zurückhaltung angesehen werden – und die Entscheidung des Gerichts dementsprechend als Versuch eine salomonische Entscheidung zu fällen. Während aber die Entscheidungen Salomons die Grundlage für eine dauerhafte Lösung des Konflikts durch Wahrung der Interessen beider Seiten boten, wird das jetzt präsentierte Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts den Streit um Dienstpflichten von Lehrern und die Rechte von Musliminnen in Deutschland verschärfen.
Dass dieser Streit zur Folge haben wird, die in der Tat dringend erforderliche Integration von ethnischen, kulturellen und religiösen Minderheiten voranzubringen, muss bezweifelt werden. Man denke nur an frühere Urteile aus Karlsruhe: Weder die Entscheidung die restriktiven Asylregelungen zu legitimieren, noch das Urteil, mit dem das Zuwanderungsgesetz wegen seines Zustandekommens für nichtig erklärt wurde, konnten der Kontroverse um Integration entscheidende Impulse geben. Diese zeigte sich im Gegenteil nach jeder entsprechenden Entscheidung der Verfassungsrichter, ebenso wie aus anderem politischen Anlass immer und immer wieder den Merzschen Kategorien des Leitkulturdenkens fest verhaftet.
Das könnte man hinnehmen. Schließlich ist nirgendwo geregelt, dass das Bundesverfassungsgericht Impulse zu geben hat. Grundrechtsverletzungen aufzuspüren ist als Aufgabe anspruchsvoll und weitreichend genug. Auch darauf hat sich die Mehrheit der Bundesverfassungsrichter in diesem Streit aber ausdrücklich nicht beschränkt – und das macht das eigentlich Problematische ihrer Entscheidung aus. Sie haben die Frage des Kopftuchtragens in der Schule als eine der Fragen bezeichnet haben, die im rechtlichen Sinn wesentlich sind und die deswegen gesetzlicher Regelung bedürfen. Dadurch haben sie den Konflikt gewichtet – und zwar so, wie es die Gegner des Kopftuchtragens tun: Diese haben immer wieder betont, dass es hier nicht um die Freiheit der Einzelnen gehe, ihren Glauben zu praktizieren, sondern dass das Tragen des Kopftuches in der Bundesrepublik generelle Bedeutung habe. Auch wenn das Urteil also vorläufig die Position der kopftuchtragenden Klägerin stärkt, unterstützt die Entscheidung, indem sie sich bemüht das Feld für alle künftigen Möglichkeiten offen zu halten, auf lange Sicht die Gegner einer offenen Gesellschaft, in der auch Minderheiten einen rechtlich gut abgesicherten Platz finden.
Das Kopftuchurteil so gelesen erweist sich auch als ein Urteil wider besseres Wissen. Denn es hätte des Ausflugs in die Wesentlichkeitstheorie nicht bedurft, der Gesetzgeber hätte nicht zum Handeln aufgefordert werden müssen. Die Argumente, die die Mehrheit des 2. Senates dafür ins Feld führt, im Verbot des Kopftuchtragens angesichts der gegenwärtigen Lage eine Grundrechtsverletzung zu sehen, hätten die Entscheidung dieses Einzelfalls und nur den ging es hier, gut und gerne alleine getragen.
Dann hätten Gesellschaft, Gesetzgeber und Exekutive Gelegenheit gehabt sich zu entscheiden, ob sie reagieren wollen – oder ob sie es auch vorziehen, das nicht zu tun und der Praxis nach Maßgabe des verfassungsrichterlichen Urteils ihren Lauf zu lassen. So hätten die Richter sich wirklich politisch zurückgehalten – indem sie sich darauf konzentrieren allein die Verletzung der Grundrechte der Klägerin zu untersuchen. Aber davor ist das Bundesverfassungsgericht, die Erinnerung an den Aufschrei der konservativen politischen Klasse nach der Kruzifix-Entscheidung noch gut in Erinnerung, zurückgeschreckt – und hat nun mit einer halbherzigen, unentschieden wirkenden Entscheidung weder für einen effizienten Grundrechtsschutz im Einzelfall gesorgt, noch hat es der Öffentlichkeit wirklich freie Bahn und Entscheidungsspielräume gegeben. Die Entscheidung im Kopftuchfall ist mithin als Ausdruck einer tiefen Krise des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen.
Weiterführende Links
- Kopftuch-Entscheidung des BVerfG | http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20030603_2bvr143602.html