Freiheit? Gleichheit?

06.06.1997 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Veröffentlicht in: Konkret 06 / 97, S. 42: Neue gesetzliche Regelungen und Gerichtsurteile in den USA und Australien haben die Kontroverse um die "Sterbehilfe" neu entfacht

Fast alle Zeitungen des US-Bundesstaats Oregon veröffentlichten im April eine ganzseitige Anzeige: Vier Porträtfotos von Abgeordneten, überschrieben mit der Schlagzeile: "Diese vier Politiker stimmten gegen Penny Schlüter (und außerdem gegen mehr als 600.000 Wähler in Oregon)." Penny Schlüter, informiert das Kleingedruckte, ist eine krebskranke Frau, die all ihre Hoffnungen auf "Maßnahme Nr.16" gesetzt hat, das 1994 in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit verabschiedete Sterbehilfe-Gesetz (siehe KONKRET 7/95). "Dieses Gesetz", wird die Frau zitiert, "gab mir die Kraft, weiterzuleben, ohne Angst vor einem qualvollen Sterben haben zu müssen."

Das auch "Death with Dignity-Act" genannte Gesetz erlaubt Medizinern, unter bestimmten Bedingungen bei einwilligungsfähigen Patienten ein tödlich wirkendes Mittel zu verschreiben. Vielen "Euthanasie"-Befürwortern geht das noch nicht weit genug: Das Oregoner Gesetz wird von ihnen als "Stillhalte"-Gesetz für die "Right to Die"-Bewegung kritisiert. Sie fordern, daß der Arzt selber eine tödliche Spritze setzen darf - und das möglichst auch bei Patienten, die nicht mehr einwilligen können, aber eine Vorabverfügung für kritische Situationen getroffen haben. Andere Sterbehilfe-Befürworter begrüßen das Oregoner Gesetz jedoch, weil sie es als Türöffner in der äußerst engagiert geführten "Euthanasie"-Diskussion in den USA verstehen.

Gegenwärtig sind allerdings die beiden "Pro Euthanasie"-Linien in die Defensive geraten: Das Gesetz wurde zwar per Volksabstimmung beschlossen, es ist aber bis heute nicht in Kraft getreten, weil ein Bundesrichter es als Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz der US-amerikanischen Verfassung bewertet hat. Mit "Maßnahme 16" würde, so die Argumentation des Richters Michael Hogan, der für alle Menschen verfassungsrechtlich garantierte Lebensschutz für eine bestimmte Gruppe von Menschen aufgehoben - für die nämlich, die an einer zum Tode führenden Krankheit litten. Das sei aus zwei Gründen problematisch: Zum einen bestehe die Gefahr, daß Menschen in den Tod gedrängt würden, weil sie - nur unzureichend krankenversichert - ihren Familien nicht zur Last fallen wollen; zum anderen werde der Lebensschutz damit auch für andere Gruppen aufgehoben werden müssen, denn es gebe keinen Grund, nur einer bestimmten Gruppe von Menschen ein "Recht auf Getötetwerden" einzuräumen.

Während die Auffassung des Bundesrichters von einem Appellationsgericht kritisiert, aber nicht rechtskräftig aufgehoben wurde, besteht jetzt die Möglichkeit, daß das "Sterbehilfe"-Gesetz insgesamt für ungültig erklärt und erneut zur Abstimmung gestellt wird: Am 2. Mai hat der Rechtsausschuß der Gesetzgebenden Versammlung von Oregon einen entsprechenden Antrag von Gegnern des Gesetzes gebilligt. Eine erneute Abstimmung sei notwendig, argumentieren die Initiatoren dieses Vorstoßes, weil sich neue Fakten ergeben hätten, die die Sterbehilferegelung in einem anderen Licht erscheinen ließen - insbesondere über die Zahl nicht-freiwilliger "Euthanasie", die im Windschatten einer liberalisierten Sterbehilferegelung ansteigt. Zwar haben die Befürworter von "Maßnahme 16" umgehend ihre massive Kampagne gegen die Erneuerung der Volksabstimmung gestartet - "Penny Schlüter wurde betrogen! ", behauptet die Großanzeige -, der Wind bläst den "Right to Die"-Aktivisten derzeit aber ins Gesicht: Das Repräsentantenhaus hat sich am 13. Mai mit 32 zu 26 Stimmen auf Initiative der Republikaner für eine Neuabstimmung im November ausgesprochen, und der Senat wird wohl ähnlich verfahren. Damit ist ein erneuter Volksentscheid im November sehr wahrscheinlich geworden.

Auch die "Euthanasie"-Befürworter in Australien, die sich das Oregoner Gesetz mit seiner Regelung des "unterstützten Selbstmords" erfolgreich zum Vorbild nahmen, haben in den letzten Wochen schwere Rückschläge einstecken müssen: Nachdem in den Nördlichen Territorien, einem autonomen Gebiet mit kaum 150.000 Einwohnern, erstmals auf der Welt ein reguläres "Sterbehilfe"-Gesetz nicht nur beschlossen, sondern auch tatsächlich die Beschleunigung des Todes von vier krebskranken Menschen ermöglicht wurde, hat nach monatelangen Auseinandersetzungen das Bundesparlament im März dem schnellen Sterben ein Ende gesetzt: Mit der knappen Mehrheit von 38 gegen 34 Stimmen wurde die als Einzelinitiative des Abgeordneten Kevin Andrew eingebrachte "Andrew Bill" verabschiedet, die den drei autonomen Regionen Australiens verbietet, Gesetze zu beschließen, die "die vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen, die Euthanasie genannt wird (was Mitleidstötungen einschließt) oder die Unterstützung einer Person, zum Zweck, ihr Leben zu beenden, (erlauben)." Um gezielten Mißverständnissen vorzubeugen, enthält das Gesetz einen Passus, der ausdrücklich das "Sterbehilfe"-Gesetz der Nördlichen Territorien außer Kraft setzt.

Ähnlich wie in Oregon ist aber auch in Australien damit eine substantielle Entscheidung nicht getroffen worden: Die "Andrew Bill" entfaltet keine Wirkung für die australischen Bundesstaaten und schließt auch eine "Euthanasie"-Regelung für Australien insgesamt nicht aus. Das wollen sich die Befürworter der Tötung auf Verlangen zunutze machen: Im Bundesstaat Victoria, dessen Ministerpräsident sich stets sehr positiv über die Regelung in den Nördlichen Territorien geäußert hat, gibt es Bestrebungen, ein "Euthanasie"-Gesetz auf Landesebene durchzusetzen. Vor allem planen aber die linksliberalen Demokraten in Australien, das zu initiieren, was die Oregoner "Euthanasie"-Befürworter mittlerweile möglichst vermeiden wollen: eine Volksabstimmung. Gestützt von Ergebnissen mehrerer großer Meinungsumfragen, die in Australien, wie fast überall in den Industrienationen, eine nachhaltige Unterstützung für "Tötung auf Verlangen" signalisieren, wollen die Demokraten zuerst in einem sozialdemokratisch und in einem konservativ regierten Staat Referenda starten, die dann, bei ausreichendem Erfolg, in eine Bundesinitiative münden sollen.

Einige Ärzte, die sich dazu bekannt haben, Patienten auf deren Wunsch getötet zu haben, unterstützen dieses Projekt ebenso wie der Mediziner Philipp Nitschke, der das Computerprogramm entwickelt hat, mit dessen Hilfe die vier "ärztlich unterstützten Selbstmorde" vollzogen wurden, die in den Nördlichen Territorien durchgeführt werden konnten: Nach mehrmaligem Drücken der Enter-Taste gibt der Rechner eine giftige Infusionslösung frei, die durch eine vorher eingestochene Kanüle in die Blutbahn geleitet wird. Bemerkenswert, wenngleich bei einer Partei, die den "Euthanasie"-Propagandisten Peter Singer zu ihren Spitzenpolitikern zählt, nicht überraschend, ist auch das Engagement der australischen Grünen für "Tötung auf Verlangen". Der tasmanische Senator Bob Brown hat sich in einem Minderheitenvotum im Justizausschuß gegen die "Andrew Bill" ausgesprochen und den Politikern der Nördlichen Territorien attestiert, sich um die Menschheit verdient gemacht zu haben: "So wie 1890 Neuseeland und Südaustralien gesetzgeberische Pionierarbeit leisteten, indem sie Frauen das Stimmrecht verliehen, haben die Nördlichen Territorien jetzt große Courage bewiesen, denn sie haben die Welt in Richtung einer Reform geführt, die mündigen Bürgern das Grundrecht auf freiwillige Euthanasie garantiert."

Daß es ein Grundrecht sein soll, die eigene Tötung verlangen zu dürfen, ist auch die Auffassung mehrerer bedeutender US-amerikanischer Philosophen: Ronald Dworkin, John Rawls, Thomas Nagel und drei weitere Wissenschaftler haben sich als Amici-Curiae-Partei in den Prozeß eingeschaltet, der derzeit vor dem Supreme Court, dem US-amerikanischen Verfassungsgericht, anhängig ist. "Um den fundamentalen Prinzipen von Freiheit und Gerechtigkeit Rechnung zu tragen", fordern sie, daß "Sterbehilfe"-Gesetze in den USA erlaubt werden. Die Intervention der Philosophen ist ein Indiz für die weit über den verhandelten Fall hinausreichende Bedeutung der gegenwärtigen, den gesamten Westen einbeziehenden Kontroverse um "Tötung auf Verlangen" und "Mitleidstötung".

Ausgangspunkt des Verfahrens vor dem Supreme Court sind zwei Entscheidungen von Appellationsgerichten. Im Verfahren "State of Washington vs. Harold Glucksberg" hatten drei Ärzte dagegen geklagt, daß sie ihren Patienten auch dann nicht zu einem schnellen Tod verhelfen dürfen, wenn diese selbst das wünschen und es den Ärzten geboten erscheint - der Staat Washington stellt die Beihilfe zum Selbstmord in jedem Fall unter Strafe. Eine Mehrheit der Richter des 9thCircuit-Gerichtes teilte die Sichtweise der Ärzte und bezeichnete das Verbot des ärztlich unterstützten Selbstmordes als Verstoß gegen die Verfassung: "Der entscheidungsfähige, sterbenskranke Erwachsene, der seine Lebensspanne fast ausgeschöpft hat, hat ein starkes Interesse, einen würdigen und humanen Tod zu sterben, statt hilflos, wieder in Windeln gewickelt, mit Beruhigungsmitteln vollgespritzt und abhängig vegetieren zu müssen", begründete Richter Reinhardt diese Entscheidung.

Ähnlich drastisch fiel auch das Urteil der Kammer des 2nd Circuits aus, die im Verfahren "Vacco vs. Quill" über die Klage von drei schwerkranken Patienten und drei Ärzten zu entscheiden hatte, die zwei Bestimmungen aus dem New Yorker Strafgesetzbuch, die Beihilfe zum Selbstmord und Beihilfe zum Selbstmordversuch verbieten, als verfassungswidrig qualifiziert wissen wollten: "Der Staat hat kein Interesse daran, ein Leben zu verlängern, das ohnehin zu Ende geht." Weder Washington noch New York mochten die Richtersprüche hinnehmen und legten deswegen Berufung beim Supreme Court ein, die auch angenommen wurde. Das Urteil, das die entsprechenden Strafbestimmungen des Staates New York als Verfassungsverstoß bezeichnet, ist auch deswegen von hoher Brisanz, weil in New York zwei Jahre zuvor eine aus "Euthanasie"-Befürwortern und -Kritikern zusammengesetzte "Task Force" nach monatelanger Arbeit einen Bericht über Sterbehilfe und die Möglichkeiten ihrer Legalisierung vorgelegt hatte, der einstimmig jede Form von Legalisierung einer "Tötung auf Verlangen" ablehnt.

Die Eskalation der juristischen Auseinandersetzung, die auch Folgen für etliche andere Bundesstaaten hat, in denen Gesetze, die Sterbehilfe erlauben oder verbieten sollen, derzeit diskutiert werden, hat zu einer Politisierung der "Euthanasie"-Debatte geführt. Waren auf Bundesebene unter Reagan die Republikaner die wichtigste Kraft gegen Bestrebungen, die "Tötung aus Mitleid" zu etablieren, engagieren sich jetzt Bill Clintons Demokraten gegen die Legalisierung der Sterbehilfe: Innerhalb weniger Wochen wurde auf Initiative des Präsidenten mit klaren Mehrheiten in beiden Kammern des US-Parlaments entschieden, daß für keine Form von "ärztlich unterstütztem Selbstmord" Bundesgelder aus den Medicare- und Medicaid-Programmen verwendet werden dürfen. Vor allem mischen sich aber zunehmend außerparlamentarische Gruppen in die Debatte ein, die auffälligerweise fast ausschließlich eine Angelegenheit des weißen Mittelstandes ist.

Insbesondere die agile US-amerikanische Behindertenbewegung, die sich in den Jahren zuvor relativ wenig an den bioethischen Diskussionen beteiligt hat, ist mit der Gruppe "Not dead yet" deutlich vernehmbar auf den Plan getreten. Die Anhörung vor dem Supreme Court wurde durch Aktionen der "Not Dead Yet"-Leute vor dem Gerichtssaal zum politischen Happening. Damit ist die US-amerikanische Anti-Euthanasie-Bewegung dabei, ihre zum Teil extrem konservative Attitüde zu verlieren und sich von den Abtreibungsgegnern zu emanzipieren. Das ist nicht nur angesichts der Aggressivität, mit der die "Lebensschützer" gegen Frauen vorgehen, notwendig, sondern auch angesichts der indifferenten oder gar zustimmenden Haltung der aus der Ecke der Abtreibungsgegner kommenden "Euthanasie"-Kritiker zur Todesstrafe in den USA unumgänglich. Daß bei einer großen Veranstaltung in Michigan, auf der konservative "Euthanasie"-Gegner Stimmung machten, die Frage unbeantwortet blieb, warum ein sterbenskranker Mensch keine von ihm selbst erbetene Hilfe zum Selbstmord bekommen solle, der Staat andererseits aber lebenswillige Menschen auf den elektrischen Stuhl setzen dürfe, hat nicht nur in der Internet-Mailing-Liste des Cheforganisators der US"Right to Die"-Bewegung, Derek Humphry, sondern auch in etlichen Zeitungsartikeln Aufmerksamkeit erregt.

Die Aktivitäten von "Not Dead Yet" und zusehends auch von anderen, etablierteren Behindertenorganisationen, führen zu einer merkwürdigen Konfrontation: In Sachen "Euthanasie" stehen sich Gruppen gegenüber, die ihre Wurzeln in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung haben. Und beide Seiten fordern die Verwirklichung von Grundrechten: Die "Euthanasie"-Befürworter konzentrieren sich dabei auf ein klassisches Abwehrrecht gegen staatliche Intervention - sie verlangen vor allem, daß der Staat das Grundrecht auf private Handlungsfreiheit nicht durch Gesetze, die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe stellen, beschneiden darf. Die Gegner einer Freigabe der Beihilfe zur Patiententötung verweisen dagegen darauf, daß mit dem geforderten "Right to Die" das Grundrecht auf Gleichbehandlung in einer zentralen Frage aufgegeben werde. Das Leben mit einer schweren Behinderung, in Abhängigkeit von pflegerischer Assistenz und von medizinischer Behandlung, wird in Stellungnahmen von "Sterbehilfe"-Befürwortern in der Tat als weniger erhaltenswert beschrieben und soll deswegen auch preisgegeben werden können.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Supreme Court hat der Oberste Bundesrichter Antonin Scalia diese Problematik auf den Punkt gebracht, als er die Verteidiger des Rechts auf ärztlich unterstützten Selbstmord fragte: "Warum soll nur jemand die Tötung durch den Arzt verlangen dürfen, der körperliche Schmerzen hat, wenn er kompetent, überlegt und aus freien Stücken handelt? Warum nicht jemand, der aus welchem Grund auch immer enorme emotionale Probleme hat und deswegen unglücklich ist? Dürfte auch so ein Mensch Ihrer Meinung nach danach verlangen, getötet zu werden? Nein? Aber das heißt, daß der Staat die Entscheidung treffen muß, daß es schlimmer ist, körperliche Schmerzen zu haben, als zutiefst unglücklich zu sein und das nicht mehr auszuhalten."

Der Philosoph Ronald Dworkin hat in seinen Arbeiten auf diese Frage einige Antworten gegeben - und damit auch klargestellt, daß zwischen dem Recht auf ärztlich unterstützten Selbstmord und der Tötung eines Patienten ohne dessen ausdrückliches Verlangen zwar theoretisch gravierende Unterschiede bestehen, praktisch die Befürwortung des einen aber auch das Engagement für das andere zur Folge hat. Mit Blick auf den Fall von Nancy Cruzan, einer jungen Frau, die ins Koma gefallen war und deren Eltern schließlich den Abbruch der künstlichen Ernährung verlangten, stellt Dworkin zustimmend fest: "Auch die Eltern und Freunde von Nancy Cruzan ... sprachen von Nancys Lebhaftigkeit und der Bedeutung, die sie einem aktiven und engagierten Leben beigemessen habe, und kamen zu dem Schluß, daß ein so gearteter Mensch es zutiefst verabscheuen würde, bewußtlos dahinzuvegetieren. Sie argumentieren ..., daß es für Nancy, die immer stolz auf ihre Selbstbestimmtheit war, besser wäre, ihr Leben würde enden, wenn die Selbstbestimmtheit nicht mehr möglich ist."

Das Konzept von Selbstbestimmung, das der Forderung nach Freigabe einer Hilfe im Sterben und vor allem der Beihilfe zum Sterben zugrundeliegt, kennt keine Entwicklungspotentiale und neuen Entfaltungsmöglichkeiten, es erweist sich als Konzept, das erlaubt, über das Vorgefundene als Eigentümer frei verfügen zu können. Es ist ein klassisches Deregulierungs-Konzept, das an der "Schnittstelle Leben" in Extremsituationen Utilitarismus und Liberalismus zusammenführt. Die Freiheit, ein Leben zu beenden, das nicht mehr den Normen entspricht, entlang derer sich sein Inhaber jahrzehntelang orientiert hat, erweist sich gleichzeitig auch als optimale Entscheidung für die Kosten-Nutzen-Bilanz sowohl der Gesellschaft als auch der Familienangehörigen.

Daß sich die Befürworter der Freigabe einer ärztlichen Beihilfe zum Selbstmord vor dem Supreme Court, der bis Anfang Juli entschieden haben will, durchsetzen, erscheint allerdings zweifelhaft. Im Cruzan-Fall haben die Obersten Bundesrichter bewußt vermieden, das Recht eines Menschen, auf medizinische Behandlung zu verzichten, als "fundamentales Grundrecht" zu bezeichnen. Sie haben dem Behandlungsverzicht, der sich qualitativ vom Recht auf Beihilfe zum Selbstmord deutlich unterscheidet, lediglich den Status eines "Freiheitsinteresses" zugewiesen, was schon auf dieser Stufe die Einschränkung durch vergleichbar bedeutende Staatsinteressen denkbar macht. Daß der Supreme Court in dieser Frage zu einer eher restriktiven Position tendiert, ist auch daran ersichtlich, daß im Fall Cruzan - obwohl das Recht auf Behandlungsverzicht auch bewußtlosen Patienten zugestanden wurde -, die Richter gegen einen Abbruch der künstlichen Ernährung entschieden, weil die Eltern nicht konkret belegen konnten, daß es wirklich der Wille ihrer Tochter gewesen wäre, in der gegebenen Situation nicht mehr ernährt zu werden. Allerdings wurde den Cruzans, nachdem sie weitere Zeugenaussagen gesammelt hatten, die ihre Behauptung stützten, ein Verhungernlassen entspreche dem Willen ihrer Tochter, später in einer erneuten Verhandlung vor einem lokalen Gericht dennoch das Recht zugestanden, die Ernährung der Patientin abzubrechen.

Die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts wird angesichts der Vehemenz der Auseinandersetzungen zwar für die Entwicklung der "Euthanasie"-Praxis in den USA von Bedeutung sein und Wirkungen haben, die auch auf andere Länder ausstrahlen. Einen Endpunkt unter die Debatte setzen wird sie so oder so aber nicht.

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BRD

Ende April hat sich auch die Bundesärztekammer mit neuen Richtlinien für die Sterbebegleitung beschäftigt. Statt, wie geplant, einen Entwurf des medizinisch-juristischen Grundsatzausschusses zu verabschieden, hat der Vorstand nun lediglich einen Entwurf der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach einer Diskussion innerhalb der Ärzteschaft sollen die endgültigen Richtlinien im Herbst beschlossen werden. Während die Aufwertung von Patiententestamenten, denen allerdings nur Indizien-, keine Bindungwirkung zukommen soll, ebenso unumstritten ist wie die Absage an jede Form von aktiver Euthanasie, gibt es kontroverse Positionen zur Begrenzung der Behandlung bei Patienten im Wachkoma, dem sogenannten chronisch-vegetativen Status und bei Neugeborenen mit "schwersten kongenitalen (d.h. angeborenen) Fehlbildungen, die nur dank des fortdauernden Einsatzes außergewöhnlicher technischer Hilfsmittel am Leben gehalten werden können". Bei den Neugeborenen sollen die nicht näher definierten "außergewöhnlichen technischen Hilfsmittel" nach Rücksprache mit den Eltern abgestellt oder gar nicht erst eingesetzt werden können. Bei den Wachkoma-Patienten soll ein "Behandlungsabbruch lebenserhaltender Maßnahmen" zulässig sein, "wenn dies dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten" entspricht. Diese teils vage, teils unsinnige Formulierung - einen erklärten Willen des Patienten im Wachkoma kann es nicht geben - verdeckt den Konflikt um die Frage, ob Koma-Patienten durch Sonden ernährt werden und bei Infektionen genauso wie nichtkomatöse Patienten behandelt werden müssen, mehr, als daß sie ihn löst. Zwar behauptet der Vorsitzende der medizinisch-juristischen Kommission, Professor Beleites, ein Verhungernlassen der Wachkoma-Patienten sei ausgeschlossen - so klar formuliert ist das in der Richtlinie aber nicht. Das hängt wohl damit zusammen, daß die Bundesärztekammer den offenen Konflikt mit dem Bundesgerichtshof scheut, der in einem Grundsatzurteil 1994 das Verhungernlassen einer Wachkoma-Patientin für gerechtfertigt erklärt hat, wenn von einer "mutmaßlichen Einwilligung" der Patientin ausgegangen werden könne. Bemerkenswert ist, daß in der gegenwärtigen bundesdeutschen Diskussion die "FAZ" kritisiert hat, daß eine zu starke Konzentration auf den tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen der Betroffenen stattfände: "Die grundsätzliche Aufwertung des Patientenwillens ist riskant: Was ist, wenn jemand erklärt, er beanspruche Behandlung über das medizinisch Übliche hinaus?"

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