Grenzenlos sicher

06.02.1994 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Veröffentlicht in: Konkret 02 / 94, S. 17

Die Kampagne gegen "Organisierte Kriminalität" leistet der rassistischen Umstrukturierung der deutschen Gesellschaft Vorschub. Das Engagement für "Innere Sicherheit" ist der erste Schritt zur Intervention jenseits der deutschen Staatsgrenzen

"Das organisierte Verbrechen bedroht das globale Dorf", verkündete der von US-Präsident Clinton neu eingesetzte FBI-Chef Freeh zum zweiten Advent, die "Organisierte Kriminalität" stelle eine "globale Einheit (dar), die jetzt Demokratien auf eine Weise bedroht, wie man sich das noch unlängst nicht vorstellen konnte". Und Deutschland, ließ der 43jährige in Washington, D.C., die versammelte Weltpresse wissen, komme bei der Bekämpfung des "internationalen Verbrechens" eine Schlüsselstellung zu: "Wegen seines Prestiges, Einflusses und der Macht seiner Finanzzentren und seiner zentralen Lage mit veränderten Grenzen ist es ein integraler Bestandteil jeder globalen Strategie für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität."

Manfred Kanther, Innenminister des dergestalt wieder zum Vorposten der freien Welt ernannten Deutschlands, dürfte sich bei dem FBI-Mann freundlich bedankt haben, hatte er selbst doch zwei Monate zuvor sein "Sicherheitspaket 94" vorgestellt, das "den europäischen Sicherheitsverbund" ins Zentrum der Anstrengungen für die "Innere Sicherheit" rückt. Wenig später führte CDU/CSU-Fraktionschef Schäuble mit seinem Vorstoß für den Einsatz der Bundeswehr im Inneren diese Kampagne für eine "Weltinnenpolitik" fort - und leistete damit gleichzeitig einen Beitrag zum deutschen "Normalisierungs"-Diskurs: "Die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verwischen im Zeitalter weltweiter Wanderungsbewegungen und internationalen Terrorismus zunehmend." Daß er damit Unruhe auch in den eigenen Reihen auslöste, dürfte die aktuelle Debatte um den Ausbau des Repressionsapparats kaum stören - mittelfristig wird die strategisch gedachte Schäuble-Inititiave, die von den Kritikern fälschlicherweise als kurzfristige populistische Stimmungsmache abgetan wurde, auch praktische Folgen zeitigen.

Die "Innere Sicherheit", die nicht zufällig in einem Moment forciert thematisiert wird, in dem die vermeintliche, gemeinschaftsstiftende Bedrohung durch das Militär der Staaten des Warschauer Vertrags verlorengegangen ist, bedarf jedenfalls in den Augen konservativer Politiker vom Schlage Schäubles und Kanthers eines gründlicheren Schutzes, als ihn die Polizei allein zu gewährleisten in der Lage ist. In diesem Zusammenhang ist die Vorverlagerung polizeilicher Intervention ins "Vorfeld der Verdachtsgewinnung" (KONKRET 9/91) zu sehen, wie sie z.B. durch den 1992 neu in die Strafprozeßordnung eingefügten Paragraphen 163e ("Polizeiliche Beobachtung", früher: "Beobachtende Fahndung") ermöglicht worden ist. Aber die Polizeiarbeit wird nicht nur qualitativ so ausgedehnt, daß es keiner Tat mehr bedarf, um Verdächtige zu schaffen, die verfolgt werden dürfen, sie soll zunehmend auch räumlich aus dem Inneren Deutschland ins Innere Europas vorverlagert werden. Deutsche Polizeipolitiker dringen deswegen, neben ihrem TREVI-Engagement (siehe dazu den Beitrag von Sebastian Scheerer in diesem Heft, S. 14f.) seit geraumer Zeit mit Vehemenz auf die, mittlerweile zugestandene, Einrichtung von Europol (der Europol-Aufbaustab arbeitet unter deutscher Leitung) und engagieren sich gegen den Widerstand anderer EG-Staaten dafür, der neuen Polizeizentrale auch eigene weitgehende Ermittlungs- und Exekutivkompetenzen zuzugestehen, die diese langfristig zu einer Art Europäischem Kriminalamt werden lassen.

Was innerhalb der EG institutionell gut, aber auch mühselig abzusichern ist, ist im Zuge der De-facto-Abschaffung des Asylrechts durch nachhaltigen Druck auf Polen, die Tschechische und Slowakische Republik, Rumänien, Ungarn und die Ukraine für Osteuropa erreicht worden: eine Ausweitung der deutschen Politik der "Inneren Sicherheit" weit über ihre Staatsgrenzen hinaus. Die deutsche Innenministerkonferenz verhandelt mit Polen und der Tschechischen Republik über die Einsetzung eines "Sicherheitsrates Ost-West", der grenzüberschreitende Fahndungen und die Erarbeitung gemeinsamer Verbrechensbekämpfungs-Strategien ermöglichen soll. Materielle Polizeihilfe und Polizeizusammenarbeit auf taktischer Ebene garantieren schon heute die Wahrung deutscher Interessen bei der Abschiebung von Flüchtlingen, bei der Verfolgung grenzüberschreitender Kriminalität, bei der Abschottung der Ostgrenzen und der Nutzung von Überwachungsmöglichkeiten. An der Ostgrenze wird auch schon seit längerem die Zusammenarbeit von Bundesgrenzschutz und Bundeswehr vorbereitet (bei der Grenzüberwachung mit Wärmebildgeräten, für die die Bundeswehr Soldaten ausleihen soll) - ohne daß es bislang zu nennenswertem Protest gekommen wäre.

Die Expansion deutscher "innerer" Sicherheitsinteressen über die Staatsgrenzen hinaus führt nicht nur zur flexiblen Ausweitung von Polizei- und Militärbefugnissen, sondern schließt Polizei und Verfassungsschutz, künftig wohl auch Polizei und den weltweit operierenden BND enger zusammen. Das Verbot einer Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten ist bereits in der Vergangenheit durch die Einrichtung der "Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung" (KGT) und die Möglichkeiten zum Datenaustausch zwischen Polizei, Verfassungsschutz, BND und Militärischem Abschirmdienst (MAD) durchlöchert worden. Im "Verbrechensbekämpfungsgesetz 94", auf dessen grobe Inhalte sich die Koalitionsparteien anläßlich der Petersberger Gespräche im Spätherbst 1993 geeinigt haben, ist eine Novellierung des die Telefon-Überwachung regelnden G-10-Gesetzes vorgesehen. Der Bundesnachrichtendienst soll demnach künftig auch in die Strafverfolgung einbezogen werden: Sogenannte "Abfallprodukte" aus der "strategischen Kontrolle", die der BND durch seine weltweite Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs ausübt, sollen künftig an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben und verwertet werden dürfen. Gleichzeitig sollen die Schwelle für die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs gesenkt und auch dem Verfassungsschutz im neuen G-10-Gesetz erweiterte Möglichkeiten zur "Vorfeld"-Überwachung zugestanden werden.

Daß künftig Geheimdienste, in deren "Kontrollgremien" nach wie vor nicht einmal die Grünen Platz finden, für Polizei und Strafprozeß verwertbare Erkenntnisse sammeln dürfen (d. h.: sollen) und entsprechende Befugnisse erhalten, bedeutet einen weiteren Terraingewinn für das Konzept des totalen Staates, der nicht sich selbst und seine Behörden, sondern seine Bewohner zur Offenlegung aller Aktivitäten verpflichtet sieht. Eng damit verknüpft ist die Auseinandersetzung um den "großen Lauschangriff", die schon längst keinen prinzipiellen Charakter mehr hat: Wie in der Endphase der Aushebelung des Grundrechts auf Asyl geht es auch beim Abhören von Privaträumen im wesentlichen nur noch um Verfahrensfragen: Das ist in gewisser Weise folgerichtig, wurde das Prinzip der Unverletzlichkeit der Wohnung doch bereits in den in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verabschiedeten Polizeigesetzen der Bundesländer, die das Abhören allerdings auf die "unmittelbare Gefahrenabwehr" beschränken mußten, suspendiert. Trotzdem soll hier noch einmal daran erinnert werden, daß das Ziel des "großen Lauschangriffs" ist, ein Grundrecht auszuhebeln. Noch 1983 hat der Bundesgerichtshof das Abhören von Gesprächen in der Wohnung als Verstoß gegen die Menschenwürde qualifiziert und strikt untersagt: "Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff in den geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen; deshalb scheidet eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus."

Die Grundrechte, das ist ein Ergebnis der Kriminalitätsdiskussion der neunziger Jahre, werden zunehmend verfügbar gemacht, sie sind nicht länger unveräußerlich, sie stellen keine Garantien mehr dar, sondern werden Opportunitätsüberlegungen unterworfen: Was in den siebziger Jahren im Kampf gegen die gefangenen RAF-Mitglieder mit Isolationshaft, Kontaktsperregesetz und Trennscheibe erprobt wurde - die Etablierung eines staatlichen Wilkürregimes, gegen das es de facto keinen Rechtsschutz gibt - , wird heute in größerem Maßstab, wenngleich mit anderen Mitteln "draußen" exerziert. Die Preisgabe letzter staatsfreier Räume, wie Anwaltsgeheimnis und Zeugnisverweigerungsrecht, ist nur noch eine Frage der Zeit, denn auch sie stehen einer effizienten Verbrechensbekämpfung auf Dauer im Wege - am Ende dieser Entwicklung, die nicht zwangsläufig immer weiter getrieben werden muß, die aber das Potential dazu in sich birgt, steht der Übergang in den offenen Staatsterrorismus, die Legalisierung der physischen Folter als allerletztes Mittel, die totale Verfügungsgewalt des Staates über seine Bürger. Insofern ist es ungenau, diesen Prozeß als Etablierung des "Sicherheitsstaates" zu charakterisieren, der eine Kontrollgesellschaft zum Ziel habe. Die Diskussion um "Innere Sicherheit" im wiedervereinigten Deutschland, das um ethnische Reinheit und seinen Platz als Führungsmacht Europas ringt, mit der Praxis der Stasi oder der sowjetischen Geheimpolizei unter Berija zu assoziieren, wie Scheerer dies tut, weist vollends in die Irre: Charakteristisch für die aktuelle Repressions-Offensive ist, daß sie in einer Situation begonnen wird, in der es objektiv keinen relevanten Gegner mehr gibt, und in der die, die sie initiiert haben, wissen, daß sie auf ein hohes Maß an Zustimmung in der deutschen Bevölkerung rechnen können.

Es geht nicht nur um die Forderung nach verschärften und neuen Gesetzen - eng verschränkt mit der Sicherheits- läuft eine Wertedebatte, die helfen soll, "gegen die Wurzeln von Kriminalität, wie Wertewandel, Anonymisierung der Gesellschaft, steigender Materialismus, Konsumdenken, Zunahme von Egoismus und Rücksichtslosigkeit verstärkt (anzugehen)" (der damalige Bundesinnenminister Seiters anläßlich der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik). Entsprechend ergeht an die Bevölkerung auch der dringende Aufruf mitzutun, "Sicherheitsforen" zu gründen, in die Freiwillige Polizeireserve einzutreten, zu denunzieren, sich neue Diebstahlsicherungen einzubauen oder auch nur "wachsam" zu sein. Gerade die Diskussion um Verbrechensbekämpfung, Sicherheitsbedürfnis und "Organisierte Kriminalität", wie sie in Deutschland in den letzten Monaten entwickelt worden ist, wirkt dabei äußerst selektiv und erfolgt zielgerichtet vor allem gegen einen deutlich abgegrenzten Teil der Wohnbevölkerung: die "Ausländer" - wobei dieser Begriff insofern nur eine Chiffre ist, als der tatsächliche Status der Stigmatisierten keine Rolle spielt, eingebürgerte Immigranten werden in dem Klischee genauso als potentielle Mafia-Angehörige wahrgenommen (und behandelt) wie Illegale, anerkannte politische Flüchtlinge ebenso wie hier gebürtige Türkinnen. Der Staat erscheint nicht nur als Apparat, der bürokratisch-technokratischen Vollzug anstrebt, er wirkt als Ideologieproduzent.

Die Argumentation, die die Demontage bürgerlicher Freiheiten zum Ziel hat, ist im Kern rassistisch. Und nichts spricht dafür, daß die damit verbundene Abkehr vom Gleichheitsgrundsatz des bürgerlichen Rechtsstaates nur einen gesellschaftlichen Spaltungs und Marginalisierungsprozeß überdecken soll, wie Joachim Hirsch das im "Sicherheitsstaat" als Kennzeichen des "autoritär-populistischen Diskurses" beschrieben hat. Zu befürchten ist vielmehr, daß die "Sicherheits"- nach der "Asyl"-Debatte der zweite Schritt ist, die rassistische Umstrukturierung der bundesdeutschen Gesellschaft voranzutreiben: Das Ziel ist aus demographischen Gründen nicht die "ethnische Säuberung", wohl aber die Verschärfung einer nach völkischen Kriterien organisierten Hierarchie, die dazu führt, daß sich der Rechtsstaat für Ausländer in einen Willkürstaat verwandelt.

Glaubt man der Sicherheitspropaganda, ist der Lauschangriff vor allem zur Bekämpfung der "Organisierten Kriminalität" erforderlich, einer in der Sichtweise des deutschen Apparats besonders schwerwiegenden, weil schwer in den Griff zu bekommenden Form des Verbrechens: Der FDP-Sicherheitsexperte Jörg van Essen begründet unter Verwendung gängiger Stereotype die Notwendigkeit für den Lauschangriff so: "Die Organisierte Kriminalität wird in besonderem Maße von ethnisch abgegrenzten Gruppen begangen, von der sizilianischen Mafia, der neapolitanischen Camorra, von chinesischen Triaden, von russischen Tschetschenen, um nur diese Beispiele zu nennen. In die Spitzen dieser Gruppen lassen sich verdeckte Ermittler, also deutsche Kriminalbeamte, praktisch nicht einschleusen." Ähnlich verzweifelt sieht der Vorsitzende der Gewerkschaft der Deutschen Polizei, Lutz, die Lage: "Die organisierten Banden sind fest in der Hand von ethnischen Gruppen, in deren Führungsspitze aus Italienern oder Jugoslawen niemals ein Deutscher eindringen wird." Der Berliner Oberstaatsanwalt Jürgen Fätkinhäuser, Leiter der für "Organisierte Kriminalität" zuständigen Abteilung 32 beim Landgericht Berlin, befindet kurz und bündig: "Während vor ungefähr fünf bis zehn Jahren der Anteil der deutschen OK-Straftäter bei teilweise 90 Prozent lag, sieht es heute so aus, daß man bei Vernehmungen nur mit Dolmetschern vorankommt: Im OK-Bereich haben wir es fast ausschließlich mit Ausländern zu tun." Das wundersame Verschwinden der Deutschen aus der bedrohlichsten Form der Kriminalität muß nicht erklärt werden - angesichts der in den schillerndsten Farben ausgemalten Hinterhältigkeit und Brutalität der "Organisierten Kriminellen" versteht es sich von selbst: Die Deutschen sind zu gutmütig für dieses harte Geschäft (schließlich ist aktenkundig, daß noch die gnadenlosesten Vertreter der hiesigen Volksgemeinschaft Mozartliebten und an ihrem Schäferhund hingen).

Fätkinhäuser und, wenngleich in abgeschwächter Form, das BKA mit seinem "Lagebild 01 Organisierte Kriminalität" befördern die völkische Sichtweise auf Kriminalität, indem sie auch noch Zusammenhänge zwischen Staatsangehörigkeit und Delikt herstellen: Polen zählen demnach zu den Autoschiebern, Rumänen und Jugoslawen werden als klassische Einbrecher stigmatisiert, Türken und Libanesen als Drogenhändler, während die Tschetschenen als besonders gewaltbereite Killer "zur Regelung interner Auseinandersetzungen engagiert werden", wie der "Welt am Sonntag"-Redakteur Jochen Kummer von Berliner und brandenburgischen Kriminalbehörden erfahren haben will.

Der "Organisierten Kriminalität", die angeblich vor allem von Fremden begangen wird, haftet deswegen auch etwas Allgegenwärtiges, in höchstem Maße Verunsicherndes an: Aus Pizzerien, China-Restaurants, Gemüse- und Second-Hand-Läden werden plötzlich Schaltstellen geheimer Mächte - "Man kann sich in Deutschland zunehmend weniger sicher sein, daß hinter einer seriös erscheinenden Fassade seriöse Geschäfte abgewickelt werden", beklagt Kummer in seinem bei Ullstein erschienenen Pamphlet Ausländerkriminalität - Legenden und Fakten zu einem Tabu.

Die "Organisierte Kriminalität" wird in der öffentlichen Debatte bemerkenswert konsequent als Fratze des sonst so freundlich dreinschauenden Kapitalismus präsentiert: "Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Motor des organisierten Verbrechens ist das Gewinnstreben" (BKA-Chef Zachert); "Der Begriff Organisierte Kriminalität umfaßt Straftaten, die begangen werden, um materielle Gewinne zu erzielen und Einfluß im öffentlichen Leben zu erzielen" (BKA-Schriftenreihe); "Diese kriminellen Verflechtungen nutzen arbeitsteilig alle Möglichkeiten, die eine moderne Gesellschaft bietet, auch alle Marktmechanismen ..., um maximale Gewinne zu erzielen" (NRW-Innenminister Schnoor). Die "Organisierte Kriminalität" symbolisiert so in der traditionsreichen deutschen Debatte das raffende im Gegensatz zum schaffenden Kapital. Entsprechend fallen im Verbrechensbekämpfungsgesetz die Rezepte aus: Neben der Be-schneidung der Rechte Beschuldigter im Strafverfahren, neuen Haftgründen und härteren Strafen sowie der Ausdehnung der Kronzeugenregelung auf den Bereich der "Organisierten Kriminalität" ist dort auch "die Ausweisung ausnahsmlos aller ausländischen Dealer" vorgesehen - die CDU hat in ihrem Leitantrag zur "Inneren Sicherheit" darüber hinaus daran erinnert, daß die Ausweisung angeblich straffällig gewordener Ausländer ja auch ohne eine rechtskräftige Verurteilung, also auf Verdacht, erfolgen kann und öfter erfolgen sollte. Mit neuen Regelungen gegen "Schlepperbanden" sollen nicht nur die Strafen für Fluchthilfe verschärft, sondern auch die polizeilichen Kontrollmöglichkeiten gegenüber Tatverdächtigen ausgeweitet werden. Die Überwachung von Ausländern wird zusätzlich durch die in engem Zusammenhang mit dem "Verbrechensbekämpfungsgesetz" vorgesehene Novellierung des Ausländerzentralregistergesetzes spürbar verschärft, in dem die Daten von mehr als zehn Millionen Menschen mit bis zu sechzig Angaben pro Person (von politischer Betätigung bis Wohnraumgröße) gespeichert sind.

Für die weitere völkische Grundierung der Kriminalitäts-Debatte (und damit für sich verschärfende materielle Konsequenzen) wird zuverlässig die Polizeiliche Kriminalstatistik sorgen, die, ohne an tatsächlich aussagekräftigen Daten interessiert zu sein, immer neue Aufschlüsselungen und Zuordnungen von Delikt- und ethnischen Verdächtigen-Gruppen vornimmt und so das Stimmungsbild "Ausländerkriminalität" dramatisch coloriert, ohne auch nur zu erwähnen, daß und inwieweit Ausländer bevorzugte Opfer von Gewalttaten militanter Deutscher sind. Die Medien, immer noch stolz darauf, die vierte Gewalt im Staate zu sein, schüren kräftig mit: "Manche kann man nicht abschieben, andere nicht inhaftieren", klagt beispielsweise die "Süddeutsche Zeitung" über "straffällig gewordene Ausländer": "Es bleibt abzuwarten, wie lange die Verwaltungsbehörden für die notwendige Abschiebung der Gewalttäter benötigen werden ... Man muß nicht den im NS-Verbrecherstaat mißbrauchten und verpönten Ausdruck ›gesundes Volksempfinden‹ heranziehen, um Polizei, Justiz und Ordnungsämter auf die Pflicht des Bürgerschutzes hinzuweisen. Recht wird schließlich im Namen des Volkes gesprochen." Und das ist hierzulande eben immer noch das deutsche Volk. Weit vorausschauend hat der Deutsche Presserat bereits 1988 seine Richtlinie 14 für die publizistische Arbeit geändert: Seitdem wird nicht mehr empfohlen, "darauf zu verzichten, die Rassenzugehörigkeit der Beteiligten ohne zwingenden Anlaß zu erwähnen", seitdem darf die "Zugehörigkeit zu religiösen, ethnischen und anderen Minderheiten" erwähnt werden, wenn ein Journalist "dies für das Verständnis des berichteten Vorgangs für bedeutsam hält" - also fast immer.

Immerhin, die Debatte um die Kriminalitätsentwicklung hat dazu geführt, daß in dem Gesetzespaket, das im Februar 1994 in den Bundestag eingebracht werden soll, zur Steigerung des deutschen Ansehens im Ausland künftig auch die "Verwendung Nazi-ähnlicher Symbole" unter Strafe gestellt werden soll. Daß dafür im gleichen Gesetz die Nazi-ähnliche Verquickung von Polizei und Geheimdienstarbeit weiter zielsicher vorangetrieben werden darf und die Sicherheitspolitik zusehends offen rassistisch begründet und ausgeführt wird, ist eine dieser groben Ironien, die zeigen, daß der technische Fortschritt alte Macht-Techniken nicht obsolet werden läßt, sondern daß befürchtet werden muß, er werde ihnen vor allem ein höheres Maß an Effizienz ermöglichen. Die Annahme, erst eine starke, bewußt klassenmäßig organisierte Opposition könnte Anlaß sein, eine Faschisierung der Gesellschaft in Gang zu setzen, ist wenig überzeugend. Wichtiger scheint mir das Macht- und Selektionsinteresse, wie es gerade in der "Sicherheitsdebatte" zu Tage tritt, die nicht zufällig im Anschluß an die "Asyldebatte" geführt wird und annähernd zeitgleich mit den "Euthanasie"- und Sozialleistungs-"Mißbrauchs"-Diskursen, die ihrerseits ein Ende des Wohlfahrtsstaates der sechziger und siebziger Jahre einleiten.

Oliver Tolmein schrieb in KONKRET 1/94 über das Ende des Kollektivs RAF

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