Ist das ein Volk!

06.11.1999 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Vergangenheit bewältigt

Veröffentlicht in: Konkret 11 / 99, S. 12: 10 Jahre "Demokratische Kultur" im Vierten Reich: Nazis dürfen wieder überall mitreden, Minderheiten werden staatlich diskriminiert, und eine Opposition findet nicht statt

Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg machte seinem Namen alle Ehre. Zum Jahrestag der deutschen Einheit trafen sich auf seiner großen Bühne die Nationalrevolutionäre Horst Mahler (vormals RAF) und Reinhold Oberlercher (vormals SDS) mit dem Mystiker Rainer Langhans (vormals Kommune I), um mit dem Gastgeber Christoph Schlingensief im Rahmen seiner "Deutschlandsuche 99" ein bißchen "der braune Dreck muß raus" zu spielen. Das Spektakel, bei dem mit Spritzpistole und Mehlsäckchen gegen Neonazis vorgegangen werden sollte, geriet zur Botschaft: Die neuen Nazis sind bühnen- und salonfähig, gehören dazu. Wer über Deutschlands Befindlichkeiten reden will, muß sich auch mit ihnen zusammensetzen.

Die Einladung wurde nicht zum Skandal. Wie sollte sie auch? So viele Foren haben sich in den letzten Jahren den DVU-Kandidaten und Republikaner-Politikern, den schwarz uniformierten Schlägern, ihren schneidigen PR-Agenten und den graumelierten Auschwitz-Leugnern geöffnet, daß ihr Dabeisein längst als beruhigendes Zeichen von "Normalisierung" gewertet wird, zumal sich immer wieder zur allgemeinen Zufriedenheit zeigt, daß die neuen und älteren Rechten ja keineswegs gleich mit dem Baseballschläger zuschlagen, sondern auch den einen oder anderen Satz formulieren können. Und so konnte nach diesem deutschen Abend im Deutschen Schauspielhaus die alternative "Taz" ihrer Leserschaft melden, daß auf der Bühne eine "tatsächliche Konfrontation mit der neuen Rechten" stattgefunden habe und der Abend überaus gelungen gewesen sei, "weil das Publikum endlich ins Gespräch kommt".

So ist er, der westdeutsche mainstream im Jahre 10 nach dem Mauerfall. Wer in ihm schwimmt, muß und will nicht zur Kenntnis nehmen, daß die "tatsächliche Konfrontation mit den neuen Rechten" keiner theatralischen Inszenierung bedarf. Für viel zu viele Menschen, die in Deutschland leben, prägt seit der Wiedervereinigung die Konfrontation auf offener Straße ihren Alltag: Sie müssen ausweichen, den Weg freigeben, sie riskieren, wenn sie am falschen Ort den richtigen Eindruck erwecken, daß sie nicht dazugehören, ihre Gesundheit.

Als Schlingensief mit Mahler, Oberlercher, Langhans und dem (von einem Schauspieler gegebenen) Grabschänder Meir Mendelsohn nur einen etwas anderen Theaterabend gestaltete, lösten auch einige andere, bislang noch unbekannte Praktiker des Tatsächlichen keinen Skandal aus, als sie am gleichen Wochenende ihre etwas andere Leidenschaft in Szene setzten und mehr als hundert Gräber auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin Weißensee zerstörten. In der gleichen Nacht wurden Hakenkreuze an das Denkmal für die deportierten Berliner Juden in Berlin-Tiergarten gesprüht - eine Nachricht, die im überregionalen Teil der "Taz" nicht zu lesen war und die auch ansonsten nicht für nennenswerte Unruhe sorgte, sondern trotz der offensichtlichen Zielgenauigkeit und vorausgegangenen Planung als "blindwütiger Akt des Vandalismus" (Berlins Innensenator Werthebach) abgetan werden konnte.

Schlingensiefs deutschlandsuchender Talk war dennoch nicht einfach ein anachronistischer Zug eines erfolgreichen weißen Deutschen aus der Mittelschicht, der sich und dem Publikum klarmachen wollte, was sowieso längst nicht mehr zu übersehen ist. Schlingensief ist mit seinem "Wagner-Projekt", mit der "Deutschlandsuche 99" und seinen zahlreichen Schauspiel-Veranstaltungen, in denen mal die linken Heroen, mal Adolf Hitler und Michael Kühnen das Personal stellen, vielmehr voll auf der Höhe seiner Zeit - einer Zeit, in der der spielerische Umgang mit Versatzstücken und Mythen des Nationalsozialismus auch in Kreisen, die dem neuen Deutschland nicht affirmativ verhaftet sind, als souverän gilt und die Klage über die Antifa, die mit ihrem bitteren Ernst den gerade erst gewonnenen Spaß verderben könnte, dazugehört.

Daß Schlingensief mit seinem "Kettensägenmassaker" 1990 als Schonwiedervereinigungskritiker angetreten war und mit seinem für die Deutsche Bank konzipierten Projekt "Rettet den Kapitalismus, schmeißt das Geld weg!" oder den "7 Tagen Notruf für Deutschland - Eine Bahnhofsmission" auch dezidierte Kritik an den herrschenden Verhältnissen inszenierte, steht dazu nicht in Widerspruch: Die Geschäftigkeit, die systematische Vieldeutigkeit machen seinen Tabubruch gerade erst interessant und verleihen ihm zusätzliches Flair. "Die Zeit der pädagogischen Hitlerbeschwörung ist vorbei. Hitler wohnt gleich nebenan und zeigt die große Geste und den Abgrund und das Lachen, wenn alles gut gegangen ist.Das größte Geheimnis der Menschheit, hier wird es zum Ereignis: wir selbst!" lobte die "FAZ", die heute Schlingensiefs Tagebuch der "Deutschlandsuche"-Tournee druckt, hellsichtig schon 1989 sein "100 Jahre Adolf Hitler"-Video.

Mit seinem Spaß am Tabubruch durch die Inszenierung von Versatzstücken des Nationalsozialismus steht Schlingensief nicht allein. Während der Regisseur dem Trio Mahler, Langhans, Oberlercher das Wort zum Deutschen Gruß erteilt, erläutert der Philosoph Peter Sloterdijk im Feuilleton seinen Vorstoß gegen Humanismus und für Heidegger und Eugenik. Nach Martin Walser tritt ein weiterer renommierter Intellektueller aus dem Schatten der deutschen Geschichte - und wie Walser wird auch Sloterdijk dafür mehr mit "herzlichen Grüßen" in kritisch-wohlwollenden offenen Briefen bedacht als einfach von der Bühne gepfiffen. Das überaus wortreiche Geraune des Philosophen, das helfen soll, den "Anthropotechniken" eine Schneise zu schlagen, löst eine ernsthaft geführte Generaldebatte über die geistigen Grundlagen der Republik aus, in der ein eigentümliches Konglomerat aus deutscher Mystik, Seinsphilosophie und Übermenschen-Wahn der Kritischen Theorie den Garaus machen soll.

Wie in diesen Wochen mit Oswald Spengler und Antje Vollmer der linke Geist ausgetrieben wird, ohne dem effizienten Wissenschafts-Positivismus der anglo-amerikanischen Welt einen Durchbruch zu verschaffen, liefert einen Vorgeschmack darauf, wie sich Deutschland in weiteren zehn Jahren ideologisch entwickelt haben wird. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, konfrontiert mit der bemerkenswerten Präsenz von Sloterdijk und Horst Mahler, unter rot-grüner Bundesregierung und mit einem veritablen Sprachenstreit für mehr Deutsch in der EU, nach einem ersten gewonnenen Krieg und angesichts einer Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen von kaum mehr als 60 Prozent stellt sich tatsächlich die Frage, wie das, was allgemein als "demokratische Kultur in Deutschland" bezeichnet wird, denn beschaffen ist - wobei manche bereits bezweifeln würden, daß sich angesichts der tiefgreifenden Differenzen von Ost und West von einer Kultur noch sinnvoll reden läßt.

Tatsächlich zeigt sich bei allerlei Anlässen, daß im Osten, der auch ökonomisch weniger prosperiert, manches anders ist: Die Zustimmung in der Bevölkerung zum Kosovo-Krieg fiel spürbar geringer aus, die Zahl der gewalttätigen Angriffe auf Personen, die nicht weiß genug, nicht nichtbehindert sind oder sonstwie aus dem engen deutschen Rahmen des Anerkannten fallen, ist hier deutlich höher; die PDS überrundet auf dem ehemals zur DDR zählenden Gebiet die SPD, aber auch CDU und DVU kassieren hier mehr Stimmen als in den meisten anderen Landesteilen. Diese Tendenzen prägen zwar eine eigene, etwas niedergeschlagenere, unzufriedenere Stimmung, entwickeln sich aber nicht zu einer eigenen Kultur. Und selbst ein Blatt der Opposition wie das "Neue Deutschland" zeigt sich eng ans einige Vaterland angepaßt, wenn es beispielsweise Kontroversen darüber organisiert, wieviel Nähe zur Nation die Linke braucht. Der Osten mag in vielerlei Hinsicht anders sein, aber er ist nicht weniger deutsch-demokratisch formiert als der Westen in seinen verschiedenen Ausprägungen - eher wirkt er wie eine Variation.

Die "no-go"-areas für Menschen, die dem deutschen Volksempfinden als störend erscheinen könnten, werden, um ein Beispiel zu nennen, im deregulierten Osten vorzugsweise von jungen männlichen Schlägern eingegrenzt und verwaltet, eine Aufgabe, die, weniger roh und gewalttätig, auch mit größerem Differenzierungsvermögen und pragmatischer, im Ergebnis aber keineswegs weniger effizient, in den westdeutschen Regionen vorzugsweise private Sicherheitsdienste und die Polizei selbst wahrnehmen. Nun sind, wie schon der Name sagt, "no-go"-areas nichts spezifisch Deutsches, und auch Polizeigewalt gegen Migranten ist in den hochentwickelten Zivilgesellschaften des Westens keineswegs ungewöhnlich. Charakteristisch gerade für die Verhältnisse im allmählich zu sich selbst findenden Deutschland ist aber zum einen, daß kaum sonstwo Polizei, Sicherheitsdienste und Nazigruppen ohne Absprache so harmonisch zusammenwirken, und zum andern, daß es keine nennenswerte öffentliche Kontrolle dessen gibt, was in den Polizeirevieren geschieht. Hinzu kommt die konsequente Weigerung, das Handeln privater und staatlicher Sicherheitsdienste auf den Begriff zu bringen: rassistisch.

Die Reaktionen nach dem brutalen Übergriff von vier Beamten des Los Angeles Police Department auf den Schwarzen Rodney King oder auf die fehlgeschlagenen Ermittlungen der Metropolitan Police London nach dem Mord an dem schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence sind sowohl auf institutioneller Ebene als auch in der Öffentlichkeit deutlich anders ausgefallen als die nach der Vorlage eines Berichtes von amnesty international über 70 Fälle von Mißhandlungen in Deutschland lebender Ausländer durch die Polizei. Während in den USA und Großbritannien grundlegende Debatten über institutionellen Rassismus begannen, die Medien über Wochen und Monate den Rassismus der Polizei und der Justiz diskutierten und, in Teilbereichen, auch politische Konsequenzen gezogen wurden, ließ sich die deutsche Öffentlichkeit den Tenor ihrer Reaktionen von der Gewerkschaft der Polizei vorgeben: Vorwürfe gegen nicht rechtskräftig verurteilte Beamte stellten einen Verstoß gegen - darunter ging es nicht - internationales Recht und die Menschenwürde der Betroffenen dar. Im übrigen handele es sich um Einzeltäter. Einzeltäter sind junge Männer, die seit Anfang der neunziger Jahre in kleinen oder größeren Gruppen Wohnheime anzünden, Zeltlager überfallen und Hatz auf Menschen machen, deren Aussehen ihnen nicht paßt.

Dabei gibt es wohl kaum eine westliche Industriegesellschaft, in der "Einzeltäter" besser in die Gesellschaft eingefügt wären als im wiedervereinigten Deutschland. Die bundesdeutsche Gesellschaft ist in weitaus höherem Maße homogenisiert und formiert als die anderer vergleichbarer Industrienationen. Während dort jeweils große Minderheiten im politischen Alltag eine eigenständige Rolle spielen, weil sie über eine gefestigte rechtliche Stellung verfügen, so daß sie selbst ihre Interessen wahrnehmen und damit den Druck der Dominanzkultur spürbar abschwächen können, hat die Bundesrepublik es geschafft, trotz ihrer nach Millionen zählenden "Gastarbeiter" eine im Kern homogene weiße deutsche Gesellschaft zu bleiben.

Diversity und multiethnicity haben zu keinem Zeitpunkt die politischen Verhältnisse geprägt, und selbst in der kurzen Aufbruchphase Anfang der siebziger Jahre hätte eine Bürgerrechts- oder Emanzipationspolitik mit dem Ziel, die Rechte nichtdeutscher Gruppen zu erweitern, keine gesellschaftliche Basis gefunden. Und seit der Wiedervereinigung ist der politische Diskurs noch viel stärker national zentriert worden. Die in großem Umfang durchgeführten Ausweisungen und Abschiebungen der Vertragsarbeiter, die in der DDR gelebt hatten, haben die ehemalige DDR zur nahezu vollständig "ausländerfreien Zone" und damit zu einem Laboratorium für ein "Deutschland der Deutschen" entwickelt.

Bisweilen sind die Einzeltäter tatsächlich Vereinzelte, in ihrer überwiegenden Mehrheit sind sie, wie kriminologische Studien ergeben haben, jedenfalls nicht in festgefügten rechtsextremen Gruppen organisiert. Das ist jedoch, anders als die veröffentlichte Meinung glauben machen will, kein Anlaß zur Beruhigung. Wer sich die richtigen Opfer wählt, kann sich der Zustimmung und Unterstützung seines Umfelds so sicher sein, daß eine verbindliche, feste Organisierung gänzlich unnötig erscheint. Mittäter und schweigende Zeugen finden sich spontan und zuverlässig, Klandestinität ist nicht erforderlich und selbst für den Fall, daß man erwischt wird, ist Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung nicht zu befürchten, zumal die privaten Sturmtrupps ja wissen, daß ihre Opfer auch auf der staatlichen Liste unerwünschter Personen ganz oben stehen.

Die Aggression des angetrunkenen Mobs, die Aufmerksamkeit der zivilen Greiftrupps und die Wachsamkeit des Grenzschutzes richten sich auf Gruppen mit identischen Merkmalen - Gruppen übrigens, die nach der festen Überzeugung der jeweiligen Einzeltäter gerade nicht aus unverwechselbaren Individuen bestehen, sondern die als ethnisch festgefügte, kriminell motivierte Kollektive beschrieben werden. Weil sie gefährlich sind, ist gegen sie auch jedes Mittel recht - von der körperlichen Mißhandlung bis zum Schußwaffengebrauch an der Grenze.

Den Migranten werden die in den demokratischen Gesellschaften als selbstverständlich garantierten bürgerlichen Freiheiten vorenthalten - der Zugang zur Staatsangehörigkeit ist, auch nach der zögerlichen Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes durch die rot-grüne Koalition nur bei erheblicher Anpassungsbereitschaft und auch dann nur für eine vergleichsweise kleine Gruppe realistisch. Verstärkt wird das Vorenthalten politischer Rechte durch das Fehlen jeglicher Anti-Diskriminierungs-Vorschriften, die einen gewissen Schutz wenigstens gegen offensichtliche Willkür bieten und als Ansatzpunkt zur Aufhebung des Status weitgehender Rechtlosigkeit dienen könnten.

Die Benachteiligungs- und Ungleichbehandlungsverbote in Artikel 3 Grundgesetz, die im Zuge der Wiedervereinigung sogar um ein Benachteiligungsverbot für Behinderte erweitert worden sind, füllen diese Lücke nicht, weil sie keine individuellen Rechte und Ansprüche sichern können und einer rassistisch oder sonstwie motivierten Gruppendiskriminierung, anders als beispielsweise entsprechende Vorschriften der US-Verfassung, nicht entgegenwirken sollen. Am Beispiel des Benachteiligungsverbotes für Behinderte hat das Bundesverfassungsgericht in den neunziger Jahren die Wirkungslosigkeit dieser Verfassungsbestimmung anschaulich gemacht.

Die zwangsweise Einschulung einer Rollstuhlfahrerin in einer Sonder- statt in einer Regelschule wurde nicht als "Benachteiligung" qualifiziert, eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des OLG Köln, das Behinderten einer Wohngruppe untersagt hat, zu bestimmten Zeiten ihren Garten zu nutzen, weil ihre Kommunikation den Nachbarn "lästig" sei, wurde nicht angenommen.

Die rot-grüne Koalition hat zwar zugesagt, weitergehende Anti-Diskriminierungs-Bestimmungen zu erlassen und damit für den Anschluß Deutschlands an den Rest der westlichen Welt zu sorgen - konkretisiert worden ist dieses Projekt bislang nicht. Das Fehlen von Antidiskriminierungs-Regelungen, die rechtliche Ausgrenzung nicht-deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger - das sind keine neuen Erscheinungen im wiedervereinigten Deutschland, sie haben sich aber hier durch das wachsende Ressentiment gegen Minderheiten und durch das rauher werdende soziale Klima verschärft. Maßnahmen der Sozial- und Gesundheitspolitik, die ausschließlich auf Absenkung der Kosten zielen, haben einen menschenrechtlichen Substandard geschaffen, der bei Flüchtlingen dazu führt, daß sie keinen Anspruch auf eine notwendige medizinische Behandlung haben, was in mehreren Fällen den Tod von Patienten zur Folge hatte, weil sich die Sozialämter weigerten, die Kosten für eine sinnvolle, gebotene und mögliche Behandlung zu übernehmen.

Illegalisierte Flüchtlinge, und das sind angesichts der verschärften Asylgesetze immer mehr, haben überhaupt keinen Anspruch auf Behandlung - und das Zusammenwirken von medizinischem Versorgungssystem mit den staatlichen Agenturen führt dazu, daß auch die wie immer organisierte und finanzierte Behandlung mit dem erheblichen Risiko behaftet ist, die Aufdeckung des illegalen Status nach sich zu ziehen. Von einem effektiven Datenschutz in diesem Bereich kann keine Rede sein. Alle Flüchtlinge betrifft die nach der Wiedervereinigung vorgenommene Absenkung der Sozialhilfe in den ersten Monaten auf einen Satz, der unter dem Regelsatz liegt - da der Regelsatz ein Existenzminimum sichert, ist damit ein Leben unterhalb des Existenzminimums für eine bestimmte Gruppe von Menschen zur politisch gewollten Realität geworden.

Auch Behinderte haben, aufgrund zahlreicher Änderungen im Sozialgesetzbuch und im Pflegerecht, keinen Anspruch mehr auf die Unterstützung, die notwendig ist, um ihnen die Führung eines selbständigen Lebens zu ermöglichen: Die Pflegesätze sind zu niedrig, um die erforderliche Pflege zu sichern, viele Eingliederungsmaßnahmen wie Kommunikationshilfen, Begleitung und Transport werden von den Sozialämtern aus Kostengründen nicht mehr oder nur noch in geringem Umfang unternommen.

An den Folgen dieses staatlich geschaffenenen dauerhaften Ausnahmezustandes für Minderheiten ist die Öffentlichkeit vollständig uninteressiert. Zwar wird der eine oder andere Fall von gravierender Diskriminierung - eine unterlassene lebensrettende Herzoperation bei einem Flüchtling in Bremen oder das vom OLG Köln ausgesprochene "Gartenverbot" für Behinderte - in den Medien verhandelt, doch längst schiebt sich dabei das angeblich real existierende Problem vor die Wahrnehmung der Ereignisse als Skandal. Und weder der Zusammenhang einzelner Vorfälle, noch deren gezielt geschaffene Grundlagen werden in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Diese Ausblendung eines relevanten Aspektes der deutschen Verhältnisse korrespondiert mit einem allgemeinen Desinteresse an den politischen Entwicklungen, das in sinkender Beteiligung an den Wahlen meßbar und in nahezu allen Bereichen sichtbar wird. Dieses Phänomen ist keineswegs, wie es in der gelegentlich aufflackernden Diskussion geschieht, mit Parteiverdrossenheit zu erklären: Auch die außerparlamentarischen Bewegungen - Anti-AKW-Gruppen, die Friedensbewegung, Behinderteninitiativen oder die Frauenbewegung - haben sich nahezu vollständig aufgelöst, die Gewerkschaften haben dramatisch an Einfluß verloren, und selbst die rechtsextremen Organisationen und Gruppierungen erleben keineswegs den Zulauf von Aktivisten, den ihre wachsende Beliebtheit erwarten ließe.

Diese Entwicklung, in der die Gesellschaft selbst ihre geringen Einflußmöglichkeiten preisgibt und sich passiv in das Geschehen einordnet, in der Ereignisse unzufrieden kommentiert werden, aber nicht mehr mit dem Willen zur Veränderung Einfluß auf sie genommen wird, ist um so bemerkenswerter, als zur gleichen Zeit das wiedervereinigte Deutschland international an Bedeutung gewinnt, sich Handlungsräume sichert und danach strebt, die Position als europäische Hegemonialmacht auszubauen. Dabei werden in allen Bereichen, die in den 70er und 80er Jahren im Mittelpunkt der politischen Konfrontation gestanden haben, Weichen für die Zukunft gestellt: Vor allem die Entwicklung Deutschlands zur Militärmacht, die Krieg als Mittel ihrer Außenpolitik wieder einsetzen können und so mit Großbritannien, Frankreich, Rußland und den USA gleichziehen will, wird in dem Land, dessen Friedensbewegung in den 80er Jahren eine partei- und strömungsübergreifende Kraft darstellte, weitgehend teilnahmslos zur Kenntnis genommen und akzeptiert.

Die "demokratische Kultur" in Deutschland wird ihrer selbst müde. Das große Ziel der bundesdeutschen Nachkriegspolitik war, so läßt sich im Rückblick konstatieren, eben doch nicht die Sicherung des Friedens und die Abschaffung der Atomkraftwerke, sondern die Wiedervereinigung. Mit dem Erreichten weiß die Gesellschaft derzeit aber wenig anzufangen, das allgemeine Glücksgefühl ist schnell verflogen. Ein neuer Orientierungspunkt ist vorerst nicht ausgemacht. Also richtet sich, wer es sich leisten kann, und das ist die überwiegende Mehrheit des Staatsvolkes, mehr oder weniger zufrieden in der deutschen Normalität ein und läßt "die da oben" so lange weitermachen, wie es geht.

So lange bedarf es auch keiner grundlegenden Entscheidungen: Die Westbindung kann aufrechterhalten bleiben, weil sie keinen nennenswerten Nachteil bringt, die demokratischen Verhältnisse bedürfen keiner autoritären Strukturierung, weil sich alle potentiellen Störfaktoren selbst erledigt haben. Die Einrichtung in den neuen deutschen Verhältnissen erfolgt unter der Voraussetzung, daß auch weiterhin "die anderen" die Kosten für den Ausbau von politischer, ökonomischer und militärischer deutscher Macht zahlen. Der Pakt zwischen deutschem Volk und deutschem Staat kann lange halten - ewig währen wird er nicht. Was dann kommt, hängt davon ab, wie weit die Herausbildung der neuen deutsch-nationalen Identität, dieses Konglomerats aus Sloterdijk, Walser und Nolte, bis dahin gediehen sein wird.

Dateien:

Logo Adobe PDF

1153467165.pdf(PDF Dokument, 24 Ki Größe)

 

Zurück zur Übersicht