Kahl und ungeschoren

06.12.1992 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Veröffentlicht in: Konkret 12 / 92, S. 26

Knapp dreihundert Verfahren wegen Bildung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung hat der Generalbundesanwalt seit der Wiedervereinigung gegen Linke eingeleitet, gerade mal sechs gegen Neonazis. Wo letztere überhaupt vor Gericht gestellt werden, kommen sie meist mit der niedrigstmöglichen Strafe davon

Maximilian Harden, Herausgeber der "Zukunft" und einer der profilierten Kritiker des Rechts-Terrorismus, wurde am 3. Juli 1923 im Grunewald in Berlin von zwei Männern überfallen und durch Schläge mit einer Eisenstange schwer am Kopf verletzt. Einer der Täter konnte ins Ausland flüchten. Dem anderen wurde zusammen mit dem Übermittler des Tötungsbefehls (der wahrscheinlich von der rechtsextremen "Organisation Consul" stammte) vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin der Prozeß gemacht. Wenn man das so nennen will. Kurt Tucholsky hat in der "Weltbühne" über das Verfahren berichtet: "Die Angeklagten machten auch nach den 15 Stunden des dritten Tages keineswegs einen ermüdeten Eindruck - sie hatten auch keine Veranlassung dazu. Man hatte mit ihnen geplaudert; und nett geplaudert. In den ersten drei Stunden war nur von Geld die Rede. Später ging man zu anderen fesselnden Dingen über: ob die La-Plata-Zeitung nationalistisch sei oder nicht; wie Herr Thimme zu Herrn Harden stehe; ob nicht Herr Harden ein Schädling des deutschen Volkes sei ... Von Morden wurde weniger gesprochen. Der Vorsitzende hatte in seinen heftigsten Momenten etwas von einem Oberlehrer, der einem Jungen nachweisen will, daß er eine Fensterscheibe kaputtgeschlagen habe." Dementsprechend fiel das Urteil aus: Aus dem Mordversuch wurde eine gefährliche Körperverletzung. Tucholsky: "Es lagen vor mündliche und schriftliche Geständnisse beider, in denen die Worte ›Erledigen‹, ›Beseitigen‹ und ›Töten‹ klar und deutlich enthalten sind. Zusammen: ein paar Jahre Gefängnis. Der Angeklagte Harden kann gehen."

Der SS-Obersturmführer Borm, Mitglied der "Leibstandarte Adolf Hitler" und als Arzt an der Ermordung von mindestens 6652 behinderten Menschen beteiligt, konnte auf noch größeres Verständnis seiner Richter rechnen. 1970 wurde er vom Landgericht Frankfurt a.M. freigesprochen: "Seine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord würde voraussetzen, daß ihm die Kenntnis von der heimtückischen Tötungsweise oder den niedrigen Beweggründen der Haupttäter (das waren Adolf Hitler und Heinrich Himmler, O.T.) nachzuweisen ist. Der Angeklagte hat sich dazu wie folgt eingelassen: ... es habe sich bei den zur Tötung vorgesehenen Kranken um völlig verblödete Existenzen ... gehandelt ... er habe an eine wirkliche ›Euthanasie‹ geglaubt." Dieser Freispruch wurde 1974 vom Bundesgerichtshof bestätigt - es war nicht der erste und blieb nicht der einzige für NS-Verbrecher: Selbst wenn ihnen das Wissen darüber nachgewiesen werden konnte, daß ihre Opfer allein aus Rassenhaß ermordet worden waren, wurde zwischen den niedrigen Beweggründen der politisch Verantwortlichen - nur diese galten als Täter - und dem Pflichtgefühl derer, die verbrecherischen Befehlen "nur" gehorcht hatten, feinsinnig unterschieden. Die meisten Angeklagten profitierten so nicht nur von der Annahme ihres "Gehilfen"-Status, sondern zudem bereits am 8. Mai 1960 von der Verjährung aller Verbrechen, deren Strafrahmen unter 15 Jahren lag.

"Es ist eine der großen Paradoxien der Gegenwart, daß nicht die sogenannte Strafrechtsreform, sondern die Diskussion über NS-Prozesse Anstoß zu einer Änderung der gesellschaftlichen Haltung gegenüber Verbrechern geben kann", resümierte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der viele NS-Verbrecher angeklagt hatte. "Plötzlich wird gefragt: Welchen Sinn haben Strafprozesse? Der soziale und individuelle Hintergrund dieser Strafsachen soll aufgeklärt werden ... Sozialer Zwang, die Suggestivwirkung der Propaganda, die Massenpsychose, der Konformismus, eine Cosi fan tutte wird festgestellt ... Man redet von Notstand..."

Die Zeiten haben sich geändert - an die Stelle des entlastenden Befehlsnotstandes ist, der Bundeskanzler hats erklärt, der Staatsnotstand getreten: Die "Asylantenflut" bedroht Deutschland, und das Regime kann ihrer mit dem gängigen Instrumentarium nicht Herr werden. Deswegen haben die großen Bundestagsparteien ein, von Staatsrechtlern übereinstimmend als kaum mehr verfassungsgemäß qualifiziertes, neues Asylverfahrens-Gesetz verabschiedet; deswegen wird in absehbarer Zeit der Grundgesetzartikel 16, der politisch Verfolgten zur Zeit wenigstens noch formal Asyl gewährt, passend zurechtgestutzt.

Während die Bonner Politiker dramatische Reden halten und ein Bedrohungsszenario nach dem anderen entwerfen sowie immer neue Artikel des Grundgesetzes abschaffen oder umändern wollen, ist ihre "Basis" längst dazu übergegangen, den Bestimmungen des Grundgesetzes Folge zu leisten. Artikel 20 Absatz 2 der deutschen Verfassung, der festschreibt: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", erscheint so in ganz neuem Licht.

Das Volk von Wittenberge beispielsweise hat sich in der Nacht zum 2. Mai 1991 entschieden, mit aller Gewalt, die ihm zur Verfügung stand, einen Streit, der in einer Diskothek begonnen hatte, bis zum blutigen Ende zu führen. Drei Afrikaner waren von Deutschen vor der Diskothek attackiert worden und hatten sich mit Messern gewehrt. Die Wittenberger beschlossen daraufhin, sich die drei "zu holen". Im Autokorso, miteinander ständig über CB-Funkgeräte in Kontakt, machte sich eine halbe Hundertschaft auf den Weg ins Wohnheim der Namibier. Die Polizei, die von dem geplanten Überfall erfahren hatte, ließ den Volkssturm dennoch unbehelligt toben: Im Wohnheim der Afrikaner wurde die Tür eingetreten, der Mob stürmte die Treppe, feuerte auf zwei Schwarze, die sich in der Küche verbarrikadiert hatten, mit Gaspistolen. Weiter ging es, die fünf Namibier, die sich im vierten Stock aufhielten, wurden mit Messern angegriffen. Drei von ihnen gelang es, sich über den Balkon abzuseilen. Der 18jährige Jona Ipinge und der 19jährige Lucas Nghidinwa schafften das nicht mehr. Die Menge drängte nach und drückte oder schmiß die beiden über das Geländer. Jona Ipinge erlitt mehrere Brüche an Hüfte, Oberschenkel und Knie, zehn Monate blieb er im Krankenhaus und wird vollständig wohl nie genesen. Lucas Nghidinwa lag nach seinem Sturz drei Wochen im Koma.

Die Polizei ermittelte so nachlässig, wie sie in dieser Nacht gehandelt hatte. Von den etwa 40 Angehörigen des Sturmtrupps, der hier im Namen des Volkes handelte, konnte knapp die Hälfte ermittelt werden. Anklage wurde nur gegen neun Personen erhoben. Die ersten drei, alles erwachsene Männer, wurden vom Kreisgericht Perleberg wegen besonders schweren Landfriedensbruchs zu Haftstrafen von jeweils einem Jahr und drei Monaten verurteilt: Die direkte Beteiligung an dem Sturz sei ihnen nicht nachzuweisen, entschied das Gericht. Die Strafen wurden zur Bewährung ausgesetzt. Der vierte im Bunde muß eine anderthalbjährige Haftstrafe immerhin antreten. Die Strafen liegen allesamt am unteren Ende einer Verurteilung nach Paragraph 125a, der im wesentlichen generalpräventive Wirkung haben soll und einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Haft kennt.

Knapp sechs Monate später entscheidet sich das Bezirksgericht Potsdam im Prozeß gegen vier Jugendliche für härtere Strafen: Drei von ihnen werden wegen besonders schweren Landfriedensbruchs, Beteiligung an einer Schlägerei und schweren Hausfriedensbruchs zu dreieinhalb bzw. zweieinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Der vierte, der 20jährige Heiko G., hat den Erkenntnissen des Richters zufolge Jona Ipinge vom Balkon gestoßen. Der Angeklagte, der in seinem Schlußwort erklärt: "Die Polizei hat mir an jenem Abend nicht das Gefühl gegeben, mich an einer Straftat zu beteiligen", erhält wegen versuchten Totschlags eine Haftstrafe von sechseinhalb Jahren. "Ausländerfeindlichkeit" hat nach Auffassung des Richters Hansel als Motiv bei dieser "regelrechten Hetzjagd auf die Hausbewohner" nur eine "gewisse Rolle" gespielt. Schwerer wiegt für ihn die "grundsätzliche Gewaltbereitschaft des Angeklagten".

Trotz dieser Bagatellisierung des politischen Rahmens der Straftat erscheint das Potsdamer Urteil als die Ausnahme, die die Regel bestätigt: Rechte Mörder und Schläger kommen, kahl wie sie meist sind, fast ungeschoren davon. Anders als Richter Hansel sehen die meisten seiner Kollegen das Handeln der Nazis nicht als vorsätzliches Tun an, sondern halten es mit dem sächsischen Generalstaatsanwalt Schwalm, der im Gespräch mit der "taz" den Fremdenfeinden Generalabsolution erteilt hat: "Die Ausschreitungen im rechten Bereich sind fast ausnahmslos aufgrund spontaner Verabredungen erfolgt, häufig nach Wirtshausbesuchen, von Gruppierungen, die ideologisch überhaupt nicht richtig festgelegt waren."

Organisationsdelikte wie die Bildung einer "terroristischen" oder "kriminellen Vereinigung", Anklagen wegen Mord, Totschlag oder besonders schwerer Brandstiftung - also alle Delikte, die im allgemeinen empfindliche Haftstrafen zur Folge haben - sind mit dieser Qualifizierung automatisch vom Tisch. Die Verfahren enden mit einem Schuldspruch wegen gefährlicher Körperverletzung, oder, im schlimmsten Fall, wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge. Ein Delikt, das in der Regel milder bestraft wird als z.B. ein Versicherungsbetrug, bei dem eine versicherte Sache in Brand gesetzt wurde.

Als Musterprozeß dieser Ordnung kann das Strafverfahren gegen die Mörder des Angolaners Amadeu Antonio Kiowa dienen. Am Abend des 24. November 1990 hatten sich Skins aus mehreren Orten in der Wohnung eines Eberswalder Neonazi-Führers getroffen. Zusammen mit diesem und weiteren etwa fünfzig Jugendlichen aus der örtlichen Diskothek zogen sie los, um "irgendwelche Andersaussehenden zusammenzukloppen". Die "Andersaussehenden" kamen aus Afrika: Zwei überlebten schwerverletzt, der dritte, Antonio Kiowa, starb zwei Wochen nach dem Überfall im Krankenhaus. Während der deutsche Mob die drei Afrikaner zusammenschlug, hielten sich mehr als zwanzig voll ausgerüstete Polizeibeamte unweit des Tatorts auf - und sahen zu. Sie hätten sich den Skins nicht gewachsen gefühlt, erklärte der Einsatzleiter später. "Beweissichere Festnahmen" gab es keine, die drei Zivilfahnder, die ebenfalls den Überfall beobachtet hatten, konnten im Prozeß niemanden so recht identifizieren, die Spurensicherung war schlampig, die Suche nach den Tätern kam nur äußerst zögerlich und wenig erfolgreich in Gang.

Der Prozeß verlief derart, daß die in Genf ansässige Internationale Juristenkommission, die sonst damit befaßt ist, die Rechte von Angeklagten in Diktaturen zu sichern, beschloß, einen Beobachter zu entsenden. Die Juristen befürchteten, daß hier das Opfer zum Täter gemacht werden würde und diese straffrei ausgingen. Ob es in dem Verfahren, das ohnedies nur gegen sechs der Schläger eröffnet wurde (der Eberswaldener Neonaziführer, der zur Szene um die "Nationalistische Front" gezählt wird, gehörte nicht dazu), ohne die Aussagebereitschaft eines Beteiligten überhaupt zu Verurteilungen gekommen wäre, ist unklar. Schließlich durchbrach der zunächst untergetauchte Kay Nando B., der wie der Eberswaldener Neonazi-Führer im Umfeld der "Nationalistischen Front" aktiv war, das verabredete Schweigen, gestand seinen eigenen Tatbeitrag und beschuldigte die anderen der Mitwirkung. Vier der Angeklagten wurden daraufhin wegen "gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge" zu vier bzw. dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, der fünfte erhielt wegen Körperverletzung eine Jugendstrafe von zweieinhalb Jahren, die auf Bewährung ausgesetzt wurde. Das Verfahren gegen den geständigen Kay Nando B. wurde abgetrennt und ist noch nicht entschieden. Damit hatte der Vorsitzende Richter des Bezirksgerichts Frankfurt/Oder sich - obwohl die Tat geplant und besonders brutal durchgeführt worden ist - für den geringstmöglichen Strafvorwurf entschieden. Die Urteile liegen entsprechend im unteren Bereich des Strafmaßes, das eine Mindeststrafe von drei Jahren Haft vorsieht. Trotzdem sind drei der Angeklagten, ebenso wie der Nebenkläger, in die Revision gegangen. Bis das Urteil rechtskräftig geworden ist, bleiben Kiowas Mörder auf freiem Fuß.

Drei junge Männer aus gutbürgerlichem Hause wurden vom Landgericht Bremen noch milder bestraft: Sie hatten in der Nacht zum neuen Nationalfeiertag, dem 3. Oktober 1991, mehrere Molotowcocktails in ein Flüchtlingsheim geworfen, weil sie von "Bürgern und Medien" immer wieder gehört hätten, daß es sich dabei um eine "Drogenvilla" handele. Weder der Zeitpunkt der Tat noch die Tatsache, daß sie in der Clique, in der auch ein Funktionär der "Nationalistischen Front" aktiv ist, verabredet worden war, haben auf das Urteil, das wegen schwerer Brandstiftung erging, einen nachhaltigen Einfluß gehabt. Die Anklage wegen "versuchten Mordes" wurde fallengelassen, weil keine Tötungsabsicht nachgewiesen werden konnte. Die 21 Monate Jugendstrafe wurden zur Bewährung ausgesetzt, weil, so die II. Jugendkammer, nicht Abschreckung, sondern erzieherische Gesichtspunkte eine Rolle spielen sollten.

Auch eine rechtsextreme Bande in Dresden konnte mit ihren Richtern zufrieden sein. Die zehn Neonazis waren am 11. September 1991 in die Wohnung einer Vietnamesin eingebrochen, hatten die schwangere Frau mißhandelt und mehrere Gegenstände gestohlen. Anschließend, wieder auf der Straße, schossen sie einen Mocambiquaner an. Verurteilt wurden sie wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahl zu Strafen zwischen fünf Monaten und zwei Jahren, die teilweise zur Bewährung ausgesetzt wurden.

Bewährungsstrafen hatten wohl auch die Attentäter von Hünxe erwartet. Obwohl sie mit drei- bis fünfjährigen Haftstrafen wegen Brandstiftung und Körperverletzung sehr viel glimpflicher davonkamen als ihre Opfer, zwei schwerverletzte libanesische Kinder, sind sie selbstbewußt in die Revision gegangen. Daß der Bundesgerichtshof sich intensiver mit den Sympathien der Angeklagten für die "Republikaner" und die "FAP" beschäftigen wird als das Landgericht Duisburg, das mehr an der Frage interessiert schien, warum der Asylantrag von Herrn Saado, dem Vater der Opfer, abgelehnt wurde, ist schließlich auch nicht zu erwarten. Interessant ist dagegen, ob ihr zielgerichtetes und entschlossenes gemeinsames Handeln, das die Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger als "versuchten Mord" verurteilt wissen wollten, auch in der Revision wie schon vom Duisburger Landgericht mit Alkoholkonsum, Psychoproblemen und verminderter Intelligenz entschuldigt werden wird.

Daß die Strafen für die Hünxe-Attentäter in den Medien allgemein als "hart" bewertet wurden, taucht die bundesdeutschen Gerichtsreporter, sonst oft ungerührte Profis, die auch das eine oder andere "Lebenslang" mit Blick auf Generalprävention und "schwere Schuld" engagiert rechtfertigen, in ein ungewöhnlich mildes Licht. Zu vollem Verständnis können sie aber erst auflaufen, wenn es nicht, wie in Hünxe, schwerverletzte Kinder oder gar Tote zu beklagen gibt. Ein besonders einfühlsames Porträt eines "Jungen aus Hoyerswerda" hat etwa die Reporterin des Deutschland-Magazins "Spiegel", Gisela Friedrichsen, verfaßt - und damit stilbildend gewirkt. "Hoyerswerda ist zum Begriff geworden. Nicht Begriff für die Gewalt, die tagtäglich den dort in öden ›Wohnkomplexen‹ zusammengetriebenen, in Betonbatterien eingepferchten Menschen durch ihre Lebensumstände angetan wird - nein ...", hebt die Reportage empört an, um uns nach einem heftigen Seitenhieb auf einen Kollegen der "Süddeutschen Zeitung", der der irrigen Auffassung anhängt, der Staat müsse generalpräventiv auch gegen Nazi-Gewalt vorgehen, Kai vorzustellen: "Ein schmächtiges Bürschchen von kleiner Statur lümmelt sich neben seinem Verteidiger, sichtlich angeödet, denn er will Selbstbewußtsein zur Schau stellen. Auf der Oberlippe kümmert ein Führer-Bärtchen." Nicht direkt niedlich, der 19jährige, aber bestimmt nicht gefährlich, eher eine arme Sau, verklemmt, nicht besonders intelligent. Daß er sich zur "Deutschen Volksunion" bekennt, als rechtsradikal bezeichnet, zu den Angriffen auf die Unterkunft der Mocambiquaner sagt: "Das mußte sein" - für Gisela Friedrichsen sind das nur Details aus einem unglücklichen deutschen Jungenleben in der Betonbatterie. Keine Strafe, sondern ein Führer muß her, bilanziert sie: "Jugendliche wie Kai sind nicht (auf den richtigen Weg) zurückzuführen. Sie sind zu führen. Sie kennen den richtigen Weg noch nicht ... Nicht jeder aber, der sich mit den Ausländern schwertut, der den Ton verfehlt, der nicht gleich die ›richtige‹ Meinung hat, ist schon eine Gefahr für den Rechtsstaat."

Nun geht es in dem Verfahren strenggenommen nicht um die "richtige" oder die falsche Meinung, und Kai wird auch keineswegs vorgeworfen, den falschen Ton gewählt oder den Rechtsstaat gefährdet, sondern einen Molotow-Cocktail auf ein bewohntes Haus geworfen zu haben - aber irgendwie muß der aus dem Westen geholte Richter zu ähnlichen Schlußfolgerungen gelangt sein wie die Vertreterin der vierten Gewalt. Kai erhält wegen Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Volksverhetzung 15 Monate Jugendstrafe. Ob sie zur Bewährung ausgesetzt wird, will der Richter später entscheiden. Kai verläßt den Gerichtssaal als freier deutscher Junge. "Das Ergebnis ist ein vernünftiges, einleuchtendes Urteil, das den Rechtsstaat nicht mit Sporen oder Peitsche durchzusetzen versucht, sondern für ihn wirbt."

Daß die derart Umworbenen zwar das Zuckerbrot gerne nehmen, ansonsten aber anderen Führern und Werbern folgen, hindert auch Gerhard Mauz nicht, anläßlich der ersten Prozesse gegen die Randalierer von Rostock-Lichtenhagen ein Loblied auf einen Jugendrichter zu schreiben, der "ernst, aber nicht drohend" den Werfer eines Molotowcocktails mit einem "Wenn Sie sich jetzt nicht astrein zusammenreißen ..." und drei Wochen Jugendarrest, die durch die U-Haft als abgegolten gelten, entläßt. Auch ein zweiter junger Mann darf, nachdem er sich noch mal gründlich ausländerfeindlich bekannt, dabei aber den Kopf mindestens einmal reumütig gesenkt hat, zu drei Wochen Jugendarrest verurteilt nach Hause gehen. Der Staatsanwalt schüttelt den Kopf: nicht wegen des Strafmaßes, sondern weil der Skin doch hätte wissen müssen, daß zu dem Zeitpunkt, wo er die Steine sammelte, gar keine Flüchtlinge mehr in der Unterkunft waren.

Aber nicht nur die Medien sind - mit wenigen Ausnahmen - im großen und ganzen zufrieden mit der hiesigen Rechtsprechung, die den Eindruck erweckt, als würde etwas gegen die Ausbreitung des Nazismus getan. Auch der antifaschistische Pressedienst der SPD "blick nach rechts" warnt vor "Richterschelte": "Berücksichtigt man die Schwierigkeiten der Beweisführung - oft Straftaten aus der Menge heraus - so sind, und das ist auch die Bewertung durch Presse und Öffentlichkeit, angemessene Urteile ergangen." Angemessen - angesichts der Tatsache, daß Politiker der Regierungsparteien, der Reps oder der DVU straflos Reden halten können, die zumeist den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen - "Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er 1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt ... 3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft" - mag man das so sehen. Gemessen an den Straftatbeständen, die in den Urteilen ja immerhin als bewiesen anerkannt werden (besonders schwerer Landfriedensbruch, gefährliche Körperverletzung, Brandstiftung) fällt auf, daß regelmäßig die geringstmöglichen Strafen verhängt werden. Schwere Straftatbestände wie Mord und Totschlag (bzw. deren Versuch) werden dagegen so gut wie nie angenommen: Bislang machte lediglich das Landgericht Mönchengladbach eine Ausnahme, das einen 30jährigen, der einen Türken mit zehn Messerstichen aus, wie es im Urteil heißt: "verachtenswertem Fremdenhaß", lebensgefährlich verletzte, wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilte.

Auch unter Juristen sind Verhandlungsführung und Strafzumessung in den neuen Nazi-Prozessen offensichtlich nicht umstritten und von nur geringer Bedeutung. Während die Zahl der jährlich verübten rechtsextrem motivierten Gewalttaten von 130 (1990) über 1500 (1991) auf 3374 (1. Januar bis 25. Oktober 1992) angestiegen ist, wird in den rechtswissenschaftlichen und rechtspraktischen Fachzeitungen vor allem über die Bewältigung der Stasi-Verbrechen räsoniert. Ansonsten beschäftigen sich Blätter wie die "Neue Juristische Wochenschrift", die "Juristen-Zeitung", die "Zeitschrift für Rechtspolitik", die "Neue Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft" oder die "Deutsche Richter Zeitung" mit so spannenden Themen wie "Die Katze in Nachbars Garten", Trunkenheits- oder Drogendelikten. In keiner der maßgeblichen Juristen-Blätter findet sich auch nur ein Aufsatz, der sich mit der aktuellen Rechtsprechung zu rechtsextremen Gewalttaten auseinandersetzt. Auch die Datenbank JURIS meldet nur: Kein Eintrag. Die Juristen praktizieren damit, was einer der obersten Rechts-Wahrer der Republik, der Generalbundesanwalt von Stahl, auch den Nichtjuristen gerne verordnen würde: das Totschweigen der Totschläger. "Solange diese Täter merken", erklärte Stahl der "taz", "welche Aufmerksamkeit sie durch diese Straftaten erregen, so lange wird es auch schon aus diesem Grund zu weiteren Taten dieser Art kommen." Wegsehen als Patentrezept der Strafverfolgung.

Von diesem Verfahren hat zum Beispiel der Dresdner Stadtkämmerer Günter Rühlemann (CDU) profitiert. Als anonymer Anrufer hatte er mehrfach über den Polizeiruf 110 angekündigt, demnächst "mit einer Kalaschnikow ein Blutbad" anrichten zu wollen, weil er sich von Ausländern bedroht fühle. Rühlemann wurde per Fangschaltung als Anrufer identifiziert. Ein Strafverfahren ist nicht eingeleitet worden. Nicht einmal ein Disziplinarverfahren drohte dem 54jährigen, der seine "ungebührliche Reaktion" damit begründete, daß die Ablehnung unberechtigter Asylanträge 1991 nach seinen (falschen) Berechnungen die Bundesrepublik 13,5 Milliarden Mark gekostet habe. Die CDU sprach sich sogar gegen einen Rücktritt Rühlemanns aus, weil er sich nur "eine verhältnismäßig geringe Verfehlung im Vergleich zu den Rostocker Krawallen" habe zuschulden kommen lassen und außerdem "lernfähig" sei.

Der Generalbundesanwalt, dessen Behörde in ihrem Rachefeldzug gegen die Linke nicht genug bekommen kann und alles daransetzt, Christian Klar und Peter Jürgen Boock gleich mehrfach lebenslang in den Knast zu bringen, läßt die Öffentlichkeit wissen, er sehe die "Innere Sicherheit der Bundesrepublik nicht als gefährdet an". Was viel über seine Vorstellung von Innerer Sicherheit und nichts über die Gefährlichkeit der Nazi-Banden und ihrer Sympathisanten sagt. Und so wenig die knapp dreihundert 129a-Verfahren gegen Linke, die der Generalbundesanwalt seit der Wiedervereinigung eingeleitet hat, beweisen, daß es eine relevante linksradikale Kraft hierzulande doch noch gibt, so wenig verraten die im gleichen Zeitraum geführten lediglich sechs 129a-Verfahren gegen Jungnazis von deren tatsächlichem terroristischen Potential.

Aber dafür ist der Repressionsapparat schließlich auch nicht geschaffen worden. Warum sollte ausgerechnet die zweite Staatsgewalt, die Justiz, effizient bekämpfen, was die anderen beiden, Exekutive und Legislative, bislang nach Kräften gefördert haben? Daß Bommi Baumann, "Exterrorist in Berlin", jetzt in der "Süddeutschen Zeitung" für "ganz knallharte Strafen für Gewalttaten" wirbt und "Isolationshaft" für angemessen hält, weil das "hat bei uns ja geholfen. Das ist heute genau die gleiche Mentalität, die gehen gnadenlos über Leichen - wie wir damals", das entspringt dem gleichen Unverständnis. Nicht umsonst ist die Bundesrepublik der erklärte Nachfolgestaat des völkisch verfaßten Dritten Reiches. Rassistische Verbrechen waren hierzulande noch nie die Taten von Feinden dieser Gesellschaftsordnung, in ihren extremen Varianten zielten sie lediglich darauf, die alten Verhältnisse zu restaurieren: Verhältnisse, die nach Meinung der politisch einflußreicheren unter den politischen Kommentatoren - anders als die Gründung der DDR - keinen wirklichen Bruch mit der Tradition des deutschen Rechtsstaates darstellten. Folgerichtig hat die deutsche Justiz die Verbrechen der Nazis, die sie selbst zu einem erheblichen Teil mitbetrieb, nur unwillig und unter nachhaltigem Druck des Auslands verfolgt. Es sollte daher niemand erwarten, daß heute die jungen Nazis strenger verfolgt werden als ihre Großväter.

Oliver Tolmein schrieb in KONKRET 11/92 über den Überfall Rechtsradikaler auf eine Behindertenschule

 

Zurück zur Übersicht