Leben ohne Barrieren

21.02.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Das EU-Jahr der Behinderten und die Antidiskriminierungspolitik

Freitag 21.02.2003: Das zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz soll bis Mitte des Jahres 2003 auf den Weg gebracht werden. Den Behindertenverbänden stehen wieder starken Lobbygruppen gegenüber, die das Projekt schon in der letzten Legislaturperiode verhindern konnten.

Als die Vereinten Nationen 1981 zum Jahr der Behinderten erklärten, konterte die damals im Aufbruch befindliche emanzipatorische Behindertenbewegung scharf: »Nein zum Jahr der Behinderer«. Dem Protest folgte der Eklat: Als Bundespräsident Karl Carstens die einleitende Rede auf der Eröffnungsveranstaltung in Dortmund halten wollte, besetzten Rollstuhlfahrer, Blinde, Armlose und Menschen, die an Krücken gingen, das Podium der Dortmunder Westfalenhalle und sprengten das »Miteinander leben - einander verstehen«.

Viele derjenigen, die damals an der Spitze des Protestes standen, werden diese Woche bei der Eröffnung des EU-Jahres der Behinderten selbst Vorträge halten oder in den kommenden Monaten an offiziellen Veranstaltungen beteiligt sein. Diese Entwicklung zeigt, dass sich der Fokus offizieller Behindertenpolitik in den vergangenen 20 Jahren erheblich gewandelt hat. Das Fürsorge-Paradigma ist ersetzt worden durch den Anspruch, Gleichstellung zu gewährleisten, die herablassende Haltung der Wohltätigkeit musste einem Denken weichen, das auf dem Anspruch auf Anerkennung basiert.

Behinderte vertreten mittlerweile sich und ihre Interessen in einem Maß selbst, wie es vor 20 Jahren zwar gefordert wurde, aber auch schwer vorstellbar war. Parallel dazu sind allerdings auch die Kosten des Sozialstaates immer stärker in die Diskussion geraten. Ausdruck dieser über weite Strecken gegenläufigen Entwicklung ist, dass einerseits ein Bundesgleichstellungsgesetz durchgesetzt werden konnte, andererseits aber im kostenintensiven Bereich der Pflege mit der Pflegeversicherung eine Regelung geschaffen wurde, die den Unterstützungsbedarf von Menschen mit Behinderungen systematisch nicht deckt und sie damit auf Dauer erheblich benachteiligt.

Dennoch ist der auf Abschaffung von Diskriminierung zielende Ansatz, der seine Wurzeln in den USA hat, wo es schon seit langem Anti-Diskriminierungs-Vorschriften für Behinderte gibt, in der gegenwärtigen Behindertenpolitik zentral. Nachdem 1994 mit der Änderung des Grundgesetzes ein allgemeines Diskriminierungsverbot für Behinderte in Artikel 3 aufgenommen worden ist, folgte in der letzten Legislaturperiode das Bundesgleichstellungsgesetz, das im wesentlichen Vorschriften enthält, die auf Beseitigung von Barrieren im öffentlichen Raum zielen. Seitdem müssen vor allem Bauvorhaben der öffentlichen Hand so konzipiert sein, dass sie für RollstuhlfahrerInnen, aber auch für Blinde und Taube zugänglich und nutzbar sind. Gaststätten müssen neuerdings ebenfalls, um von der Verwaltung ihre Konzession zu erhalten, behindertengerechte Räumlichkeiten nachweisen. Aufgrund eines Verbandsklagerechts bestehen gute Chancen, dass sich die neuen Bestimmungen auch durchsetzen lassen.

In der Praxis haben seit Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes mehrere Verordnungen die Handlungsmöglichkeiten insbesondere blinder und hörgeschädigter Menschen im Verwaltungsverfahren verbessert, Behörden-Seiten im Internet wurden neu konzipiert und auch im neuen Urheberrecht sind spezielle Kopiermöglichen für sinnesbehinderte Menschen vorgesehen. Zudem bietet das Behindertengleichstellungsgesetz die Möglichkeit, dass Behindertenverbände mit Unternehmen und Unternehmensverbänden sogenannte Zielvereinbarungen über die Abschaffung von Benachteiligungen treffen können, die dann allgemeine Gültigkeit haben sollen. Ein Projekt, bei dem über eine solche Zielvereinbarung ernsthaft verhandelt wird, ist die Einrichtung von Geldautomaten für Blinde. Allerdings ist bislang noch keine einzige Zielvereinbarung unterschriftsreif. Auch das verdeutlicht ein grundlegendes Problem des neuen Gesetzes, das allerdings auch noch kein Jahr in Kraft: Es konzentriert sich im wesentlichen auf die Abschaffung baulicher Barrieren in öffentlichen Gebäuden.

Die vielfältigen sonstigen Benachteiligungen, die Menschen mit Behinderungen im privaten und beruflichen Alltag erleben, werden durch das Gesetz nicht gemildert. Hier sollte eigentlich das zivilrechtlich ausgestaltete Anti-Diskriminierungsgesetz Abhilfe schaffen, das zudem insofern einen beachtlichen Schritt nach vorn dargestellt hätte, als es sich systematischer gegen die Ausgrenzung von benachteiligten Minderheiten gerichtet hätte. Mit seinen Vorschriften sollten auch Diskriminierungen wegen Religionszugehörigkeit, wegen sexueller Orientierung oder wegen unterschiedlicher nationaler Abstammung ausgeschlossen werden.

Die Einbeziehung anderer benachteiligter Gruppen hat in der letzten Legislaturperiode die Diskussion des Gesetzentwurfes erheblich beeinträchtigt. Aber auch das im Entwurf vorgesehene Recht, dass Menschen mit Behinderungen gegen Arbeitgeber, Vermieter oder Versicherer vorgehen können, die ihnen wegen ihrer Behinderung den Abschluss eines entsprechenden Vertrages verweigern, wurde als »Abschaffung der Privatautonomie« von den Lobbyistenverbänden und der konservativen Opposition rigoros abgelehnt. Zwar haben seitdem etablierte Behindertenverbände und die Gruppen aus der emanzipatorischen Behindertenbewegung ihre Bemühungen für ein solches Gesetz intensiviert. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat erscheint aber unwahrscheinlich, dass der Streit gegen die zivilrechtliche Diskriminierung in dieser Legislaturperiode günstiger ausgeht. Immerhin hat das Netzwerk Artikel 3 eine Kampagne gestartet, deren Ziel es ist, Fälle von Diskriminierungen Behinderter im Alltag zu sammeln, um so deutlich zu machen, wie dringlich ein entsprechendes Gesetz ist.

Abzuwarten bleibt, inwieweit die Bundesländer mit eigenen Behindertengleichstellungsgesetzen nach ziehen, in denen jene öffentlichen Bereiche geregelt werden, die Ländersache sind und von daher vom Bundesgleichstellungsgesetz nicht umfasst werden. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang das Bildungssystem, da gerade der Zugang zu Regelschulen ein Problem ist, das gegenwärtig häufig vor Gericht ausgefochten wird. Ein Entwurf der bayrischen Landesregierung, der dieses Jahr beschlossen werden soll, stimmt nicht sonderlich optimistisch: Der gesamte Bildungsbereich ist ausgeklammert und soll in einem eigenen Gesetz geregelt werden. Die anderen Vorschriften reichen nicht weiter als die des Bundesgleichstellungsgesetzes, das großzügigen Bestandsschutz gewährt und den behindertengerechten Umbau bereits bestehender Gebäude hinauszögert.

In Berlin, das seit 1999 ein Landesgleichstellungsgesetz hat, ist im vergangenen Jahr zum zweiten Mal Bilanz gezogen worden. Im entsprechenden Senatsbericht werden vielfältige Verstöße gegen das Gesetz veröffentlicht. Insbesondere bei großen Bauwerken, vom Fernsehturm bis zum Olympiastadion, sei das Ziel »Barrierefreiheit« nicht erreicht worden. Der Bericht resümiert, dass die Umsetzung von Gleichstellung ein »schwieriger und langwieriger gesellschaftlicher Prozess« sei. Das dürfte wohl auch für die Bundesländer Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hessen oder Thüringen gelten, in denen entsprechende Gesetzentwürfe diskutiert werden.

Vor allem zeigt sich gegenwärtig aber, dass Diskriminierungen dort besonders schwer abzubauen sind, wo Kosten verursacht werden. Die Fortführung des Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik ist damit gerade jetzt, am Anfang des EU-Jahres der Behinderten, an einen kritischen Punkt gestoßen. Es wird sich zeigen, in welchem Ausmaß die so stark gewachsene Selbstvertretung Behinderter auf lange Sicht mehr vermag als einen Mangel selbstbestimmt zu verwalten und damit auch ein Stück weit zu kaschieren.

Weiterführende Links

    Netzwerk Artikel 3 | http://www.nw3.de/
    Europäisches Jahr der Behinderten - Deutsche Seiten | http://www.bma.de/index.cfm?515AE61C466849D5959D103D8B0A4DF5

 

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