Mehmet raus!

05.08.1998 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Veröffentlicht in: Jungle World, 5.8.1998: Das deutsche Jugendstrafrecht steht in einer nationalsozialistischen Tradition, und es wird dieser immer mehr gerecht

Daß die modernen Industriegesellschaften einem Jugendkult frönen, wird oft und gerne behauptet. Im Samstagmittagsstau in der Fußgängerzone, eingezwängt zwischen Plateauschuhträgerinnen und Augenbrauen-gepiercten Kurzhaaryuppies, fällt es tatsächlich schwer, sich diesem Eindruck zu entziehen. Und auch auf dem Weg zum Campus, vorbei an Fitnesscentern, stets ein überdimensioniertes Werbeplakat im Blick, erscheinen Wirklichkeit und Klischee deckungsgleich.

Erst abends, wenn in der Tagesschau das politische Personal der Republik vorbeizieht, Kanther, Schily, Fischer, Kohl, wenn amtlich verkündet wird, daß ein sich über 30 Jahre hinziehendes Ausstiegsprogramm - woraus auch immer - als zügig zu gelten hat und ein 40jähriger graumelierter Herr als "Junger Wilder" etikettiert wird, erscheint das Land wieder im trauten Licht: Neu ist, was alt macht.

Das Spannungsverhältnis zwischen der Sehnsucht nach der ewigen Jugend und dem Hang zum Ewiggestrigen findet seinen Niederschlag auch in der Auseinandersetzung um "Innere Sicherheit", die viel zu praktisch ist, als daß ihr noch der Debattenstatus zuerkannt werden könnte. Jugend spielt hier in doppelter Hinsicht eine entscheidende Rolle. Die Anprangerung von Sexualverbrechen an Kindern soll die Bedenkenträger, die sich um Grundrechte Gedanken machen, wo die Gemeinschaft auf Effizienz und Rache aus ist, endgültig auf den Platz jenseits der Gesellschaft verweisen, auf den sie nach Meinung vieler ohnehin schon längst gehören. Das Räsonieren über die Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, die angeblich immer krimineller werden, macht gleichzeitig den Weg für eine Umgestaltung des Strafrechts frei, die auch für Erwachsene folgenreich werden wird. Statt der Taten rücken die Täter in den Mittelpunkt, an die Stelle des, auch schon problematischen, Resozialisierungsgedankens tritt das Interesse an der Erziehung - der Erziehung durch die harte Hand.

"Offenbar ist die erzieherische Kraft des Elternhauses in vielen Fällen so geschwächt, daß sie selbst dort versagt, wo es sich um die einfache Sittlichkeit im Sinne der Zehn Gebote handelt. Zu oft herrscht Gleichgültigkeit, wie sie für permissive Gesellschaften typisch, aber für die moralische Entwicklung der Kinder schädlich ist", kommentiert der außer Dienst gestellte OLG-Präsident Rudolf Wassermann - Herausgeber der justizkritisch-emanzipatorisch gedachten "Alternativkommentare" und seit Jahren zum National-Konservativen mutiert - in der offiziösen Neuen Juristischen Wochenschrift die "Kinderdelinquenz".

Und auch liberalere Juristen und Sozialwissenschaftler als er stimmen mittlerweile in den Ruf nach "mehr Autorität" ein. Die große Koalition der Herren der Inneren Sicherheit ist dabei, das Arsenal der Maßnahmen entsprechend auszustatten: Die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters, die Schaffung geschlossener Heime, die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts auf Heranwachsende.

Von vielen Fachjuristen wird deswegen enttäuscht "mangelnde Sachkenntnis" konstatiert. Wissenschaftler wie der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer (Jungle World, Nr. 32/98) weisen darauf hin, daß die Kriminalitätszahlen nur teilweise steigen und von einer zunehmenden Brutalisierung nicht die Rede sein könne. Dieser Ansatz, der impliziert, daß das Jugendstrafrecht sich im Grund bewährt habe, geht aber ins Leere, weil er verkennt, daß die konservative Kritik und das System des Jugendgerichtsgesetzes hervorragend zusammenpassen.

Das Jugendstrafrecht, wie es in Deutschland seit Jahrzehnten praktiziert wird, ist ein Täterstrafrecht: Nicht die Tat, sondern die Persönlichkeit dessen, der sie begangen hat, begründet im wesentlichen die Art der Strafe. "Der Richter verhängt Jugendstrafe, wenn wegen der schädlichen Neigung des Jugendlichen, die in der Tat hervorgetreten ist, Erziehungsmaßnahmen oder Zuchtmittel zur Erziehung nicht ausreichen." Dieser Ansatz eines Täterstrafrechts wurde entscheidend im Nationalsozialismus geprägt: "Jugend führen heißt Jugend erziehen" war der Leitgedanke der großen Reform des Jugendstrafrechts von 1943, die den Dreischritt von Erziehungsmaßnahme, Zuchtmittel und Jugendstrafe gesetzlich etablierte und die Strafdauer vom Strafrahmen der Tat abkoppelte. Damit sollte dem schon früher von Roland Freisler formulierten Gedanken, daß das Jugendstrafrecht zur "Auslese" von Erziehbaren und Nicht-Erziehbaren beitragen solle, Rechnung getragen werden. Weder daß das Jugendstrafrecht damals eine rassebiologische Grundierung erhielt und strikt als Deutschenstrafrecht ausgestaltet wurde, noch die Möglichkeit, Strafen von unbestimmter Dauer zu verhängen oder Jugendliche in Polizeilager einzuweisen, machte das NS-Jugendstrafrecht suspekt.

Im Gegenteil: Noch in seiner neuesten Auflage attestiert das juristische Standardlehrbuch "Jugendstrafrecht" von Schaffstein / Beulke: "Auf dem Gebiet des Jugendstrafrechts ist auch in den Jahren 1933 bis 1945 die kontinuierliche Entwicklung nicht unterbrochen worden. Vielmehr gelang es sogar während des Krieges, wesentliche Mängel des bisherigen Rechts zu beseitigen (...). Die innere Eigenständigkeit der Jugendstrafe kam in der Beseitigung der für das allgemeine Strafrecht geltenden Strafrahmen sowie in der Zulässigkeit der unbestimmten Strafdauer zum Ausdruck. Auch die weiter erzieherische Ausgestaltung der Jugendstrafe ist als wesentlicher Fortschritt zu nennen." Die gegenwärtige Debatte ist dazu geeignet, das Jugendstrafrecht auf diesem traditionsreichen Pfad ein gutes Stück weit zurück in die Zukunft zu führen. Auch ohne daß es zu gesetzlichen Verschärfungen kommen muß, prägt das autoritäre Denken die Praxis der Strafverfolgung in diesem Bereich: Der Bundesgerichtshof hat schon 1996 in einer grundlegenden Entscheidung festgeschrieben, daß entgegen der bis dahin geübten Praxis auch die Verhängung von zehnjährigen Strafen Ausdruck des Erziehungsgedankens sein könne und nicht unbedingt aus einer besonderen Schwere der Schuld, die in der Tat zum Ausdruck komme, resultieren müsse.

Da die Strafrahmen des Erwachsenenstrafrechts nicht gelten, kann damit auch der einfache Diebstahl im Wiederholungsfall mit einem Jahrzehnt Haft geahndet werden, wenn das nach Meinung eines Richters der Erziehung dienlich sein sollte. Auch daß in den letzten Jahren zunehmend längere Jugendstrafen verhängt werden, Jugendliche weitaus schneller und im Durchschnitt auch länger in Untersuchungshaft genommen werden, bestätigt diesen Trend zum erzieherisch motivierten harten Durchgreifen. Empirische Untersuchungen Anfang und Mitte der neunziger Jahre haben darüber hinaus gezeigt, daß die Sanktionen der Jugendgerichte unabhängig von den begangenen Taten härter ausfallen, je stärker die "sozialbiographischen Auffälligkeiten" sind: Jugendliche aus der Unterschicht wandern also im Durchschnitt, wenn sie nicht gerade Flüchtlingsunterkünfte angezündet haben, deutlich länger in den Knast als Jugendliche aus den Mittelschichten.

Noch länger sitzen lediglich Jugendliche türkischer und jugoslawischer Herkunft, die gegenüber deutschen Jugendlichen signifikant benachteiligt werden - zumal sich hier den Strafverfolgern zunehmend leichter die Möglichkeit eröffnet, statt des Einsperrens als Strafe gleich die Aussperrung des Straftäters aus der Volksgemeinschaft überhaupt zu exekutieren.

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