Menschenrechte in der Gesundheitspolitik und Rationierung der Inneren Sicherheit

04.06.1999 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Veröffentlicht in : Freitag, 4.6.1999: Kriege werden die Sozialhaushalte auch in den NATO-Staaten verringern

Als die deutsche Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Bündnis 90/ Die Grünen) dieser Tage in den bundesdeutschen Medien ihren Entwurf einer neuerlichen Gesundheitsreform vostellte, wurde scharf und kontrovers diskutiert. Es ging um Budgets, Dirigismus und die Verteilung der Honorare, um Ressourcen-Knappheit, Anspruchsdenken und den Lobbyismus der Ärzteschaft. Um eines ging es im Verlauf der wortreichen Kontroverse allerdings nicht: um Menschenrechte. Dabei bestünde dazu Anlaß: die Entwicklung des bundesdeutschen Krankenversorgungssystems, die die grüne Gesundheitsministerin in wesentlichen Zügen fortschreibt, wird dazu führen, daß immer mehr medizinisch sinnvolle Leistungen nicht erbracht werden. Wer ein Globalbudget festschreibt, kann nicht darauf vertrauen, daß nur die wertlosen, überflüssigen, möglicherweise schädigenden Therapien unterbleiben; es wird, das lehrt die Erfahrung in anderen Ländern, in zumindest annähernd gleichem Maße auch zu einer Begrenzung von gebotenen Maßnahmen führen. Schon heute fehlen in großem Ausmaß Plätze in Frührehabilitationseinrichtungen für Hirngeschädigte, sind die Betten auf den Neugeborenen-Intensivstationen knapp, sind zum Beispiel Palliativstationen unzureichend ausgestattet. Wenn aber Menschen nach einem Schlaganfall nicht in die Frührehabilitation kommen, sondern ins Altersheim verlegt werden, wenn für behandlungsbedürftige Neugeborene keine Intensiv betten zur Verfügung stehen, wenn es kaum Plätze für Schwerstkranke gibt und sie deswegen unnötigerweise unter erheblichen Schmerzen leiden, sind das Menschenrechtsverletzungen. Nur: Sie werden nicht als Verletzung der Rechte von Menschen diskutiert.

Die Politik der Krankenversorgung als Menschenrechtspolitik zu begreifen, würde den Handlungsspielraum der Akteure einengen, würde der Durchsetzung dessen, was als effizient verstanden wird, Grenzen setzen. Es würde sichtbar machen, daß die Politik der Sanierung der Haushalte und der Verbesserung von Investitionsbedingungen für die deutsche Wirtschaft, in der die Absenkung der Lohnnebenkosten zum Alleinseligmachenden geworden ist, einen hohen Preis hat, den nicht die bezahlen, die davon profitieren.

Als sich vergangene Woche ein Flüchtling, der in den Sudan abgeschoben werden sollte, heftig wehrte, fesselte ihn der Bundesgrenzschutz nicht nur, die Beamten zwangen dem Verzweifelten auch noch einen Motorradhelm über den Kopf: Damit sich, so die Erklärung später, der "Schübling" nicht selbst schwere Schädigungen beibringen könnte, die die Abschiebung langfristig verhindert hätten. Tatsächlich konnte sich der Flüchtling nicht mehr selbst verletzen - er starb im Verlauf dieser polizeilichen Anwendung unmittelbaren Zwangs.

Die Reaktionen fielen maßvoll kritisch aus: Niemand möchte, daß Flüchtlinge sterben, solange sie sich in den Händen deutscher Staatsgewalt befinden. Andererseits gilt es nach wie vor als beachtlicher politischer Erfolg, wenn die Zahl der Asylsuchenden hierzulande wieder einmal auf dem niedrigsten Stand seit 15 Jahren ist.

Im politischen Diskurs hat die schlichte Behauptung, daß es Grenzen der Belastbarkeit geben soll, die Forderung nach Wahrung der Menschenrechte durch Gewährung von Asyl oder wenigstens durch Sicherung der körperlichen Integrität längst überlagert.

Unterdessen wird der Luftkrieg gegen Jugoslawien fortgeführt und an jedem Tag, an dem die NATO Tonnen von Sprengstoff über ihren Zielen ablädt, wird betont, daß nur so dem Guten auf der Welt zum Durchbruch verholfen werde: Kein Wort über Lobbyismus, über Grenzen der Handlungsmöglichkeiten, Ressourcen-Knappheit oder Belastungsgrenzen. Statt dessen wird voller Inbrunst das Hohelied der Menschenrechte angestimmt.

Dem Militär, dessen Kriegshandwerk traditionell der Effizienz, dem Erreichen eines fest umrissenen Ziels verpflichtet ist, eröffnet sich durch die neue Aufgabe "Sicherung der Menschenrechte" ein schier unbegrenzter Handlungsraum. Bei der Gestaltung der sozialen Verhältnisse in der Gesellschaft wird das gleiche Ziel, Aufgabe der traditionellen Beschränkungen, durch den Verzicht auf jedes Moralisieren erreicht: Effizienz und Realismus sollen hier das bislang unmöglich Scheinende, die Rationierung, durchsetzen. Der Zusammenhang von Krieg und Gestaltung der sozialen Verhältnisse, die Zerstörung der Humanität durch die Erkämpfung der Menschenrechte, wie sie derzeit die westliche Wertegemeinschaft NATO versteht, reicht aber noch weiter: Der Kampf für diese Menschenrechte und ihr Ausblenden an anderer Stelle ermöglicht Selektion, verlangt sie geradezu.

Wer Menschenrechte beanspruchen kann, entscheidet in diesem Krieg das Bomberkommando. Die Serben haben ihr Recht auf Menschenrechte verwirkt. Und in den serbischen Krankenhäusern, deren Stromversorgung lahmgelegt wird und deren Medikamentenvorräte zur Neige gehen, wird das Rationierungskonzept des Krieges, die Triage, Selektion der fitten Behandlungsfähigen, Aussonderung der schwerkranken, aussichtslosen Fälle, zunehmend Alltag werden. Daß in den NATO-Staaten selber in den nächsten Jahren, die Kosten dieses und künftiger Kriege die Etats der Sozialhaushalte verringern werden, wird immer weniger Proteste hervorrufen. Die Moral des Krieges, daß es wichtigeres gibt als Menschenleben zu retten, daß auch die gezielte Tötung legitimes Mittel staatlicher Politik ist, stumpft die Empfindlichkeiten ab und bietet eine solide Basis für künftige, schärfer werdende Rationierungsdiskussionen.

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