Nicht rechtlos, aber lästig

22.07.2002 | | Recht

Eltern eines Behinderten wegen Ruhestörung vor Gericht - wieder ein Fall wie vor dem OLG Köln 1998

FAZ 22.07.2002: Das Verfahren endete mit einem Vergleich, die Eltern eines behinderten Kindes müssen aber trotzdem die Wohnung verlassen, in der sie leben. Grund: Zu viel Lärm. Ein ganz normaler Prozess in Itzehoe.

Ein jahrzehntealtes, hellhöriges Mehrparteienhaus, eine Familie mit einem schreienden Kind, ein Nachbar, der sich nichts gefallen lassen will - das ist der Stoff aus dem die Alpträume des Alltags geschneidert werden. Ist für den Schimmel an der Wand der Mieter verantwortlich, der zu selten renoviert oder der Vermieter, weil die Wände nicht in Ordnung sind? Hat der Nachbar einen unruhigen Schlaf oder ist das Kind von oben dafür verantwortlich, dass er im April 11mal und im Mai 6mal nächtens aufgewacht ist? Als einer der Bewohner die Miete wegen Lärmbelästigung mindert, ist für den Hamburger Eigentümer, der das Haus neu erworben hat, die Schmerzgrenze erreicht: Fristlose Kündigung. Der Fall kommt vors Gericht. Für den Amtsgerichtsdirektor im schleswig-holsteinischen Itzehoe ein Routinefall. Nur: Das Kind der Familie schreit nicht, weil es schlecht erzogen ist, sondern weil es eine Behinderung hat. Das Lesch-Nyhan-Syndrom, an dem Soner U. leidet, ist üblicherweise kein Fall für den Amtsrichter, sondern für die Bioethiker: Sollen Kinder mit dieser sehr schweren genetisch bedingten Behinderung überhaupt auf die Welt gebracht werden? Der Familie U. stammt aus der Türkei. Die Eltern können kaum Deutsch, die Bioethik-Diskussionen in Deutschland sind ihnen nicht mal fremd, sie finden in einer anderen Welt statt.

Menschen mit Lesch-Nyhan-Syndrom entwickeln Aggressionen gegen sich selbst und gegen andere, sie beißen sich in die Finger, stechen sich ins Auge und bekommen rasende Wutanfälle. Die meisten an schweren Formen des Lesch-Nyhan-Syndrom erkrankten Menschen sterben bevor sie das Teenager-Alter erreichen. Soner U. ist jetzt 13. Um ihn vor Bißverletzungen zu bewahren haben die Eltern ihm auf Raten des behandelnden Arztes alle Zähen ziehen lassen. Damit er sich seine Augen nicht verletzt muß er Handschuhe tragen, die stark verschnürt werden. Tagsüber geht er in eine Sonderschule. Abends und am Wochenende sitzt Soner meist zu Hause, sieht manchmal fern und schreit bisweilen. Soner sitzt im Rollstuhl und kann sich alleine nicht fortbewegen. Sein Vater hat einen kaputten Rücken und wartet auf die Verrentung, seine Mutter kann den Sohn ohnehin kaum noch die Treppe hochtragen. Manchmal erledigt das der älteste Bruder, der aber arbeiten muß und selten zu Hause ist.

Zu Hause: Das ist eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung, in der Familie U. seit 20 Jahren lebt. Seit zwei Jahren läuft die Auseinandersetzung mit den Nachbarn. Nicht direkt. Die Beschwerden gehen an den Vermieter, der schreibt Abmahnungen und schließlich die Kündigung. Mit Behindertenfeindlichkeit, darauf beharrt sein Rechtsanwalt Carsten Stöven, habe das nichts zu tun. Schlimmer als der Lärm durch den Jungen seien die Auseinandersetzungen zwischen dessen Eltern, die sich allerdings stets im Anschluß an einen Aggressionsausbruch ihres Kindes entwickelten. Ausserdem habe sein Mandant sich ja, leider vergeblich, bemüht, durch Schallschutzmaßnahmen die Situation zu entspannen. Auch der Amtsrichter sieht das so: Ohne einen Ortstermin, gestützt nur auf die Aussagen der entnervten Zeugen, stellt er "unter Berücksichtigung der Interessen der Beklagten trotz der menschlich schwierigen Situation, in der die Beklagten sich befinden" fest, dass ein wichtiger Grund für die fristlose Kündigung vorliegt. Und was soll aus Familie U. werden? "Das Gericht hat bei einer Sozialbehörde nachgefragt. Ihm wurde bestätigt, dass die Sozialämter bei derart schwierigen Verhältnissen helfen."

Der Rechtsanwalt der Familie, Uwe Gentner, will kein vages Hilfsversprechen vom Sozialamt. Er will, dass seine Mandanten in ihrer Wohnung bleiben können. Gentner legt Berufung beim Landgericht Itzehoe ein und argumentiert mit baulichen Mängeln des Hauses, verweist auf Mieter, die sich durch den angeblich so durchdringenden Lärm nicht gestört fühlen. Er bemerkt auch, daß bis zum Kauf des Hauses durch den neuen Eigentümer keiner Mitmieter sich so über die angeblich Lärmbelästigung durch Familie U. beschwert hat.

Die Verhandlung vor dem Landgericht Itzehoe am Donnerstag, die über die weiteren Geschicke der Glückstädter Hausgemeinschaft entscheiden soll, dauert keine Stunde. Die Anfang des Jahres in kraft getretene Reform der Zivilprozeßordnung begrenzt den Prüfungsumfang des Berufungsgerichts. Es geht an diesem Vormittag also nicht mehr darum, ob Soner U. tatsächlich so viel Lärm verursacht, sondern ob die Kündigung der Familie einen Verstoß gegen Artikel 3 Absatz des Grundgesetzes darstellt: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Die Vorsitzende Richterin der 4. Zivilkammer weist auf eine Entscheidung des Oberlandesgericht Köln vom Januar 1998 hin. Damals wurde einer Gruppe von Geistigbehinderten untersagt zu bestimmten Zeiten den Garten zu benutzen, weil sich die Nachbarn durch ihre Kommunikation untereinander gestört fühlte. "Das Toleranzgebot (gegenüber Behinderten) muß - spätestens - dort enden, wo die Unzumutbarkeit beginnt." Dass diese Entscheidung bundesweit vehemente Proteste nach sich zog und außerhalb der juristischen Welt als Skandal betrachtet wurde, ist in Itzehoe jetzt, vier Jahre danach, kein Thema. Rechtsanwalt Gentner hat das Signal des Gerichts verstanden. Da auch das Itzehoer Verfahren öffentliches Interesse auf sich gezogen hat, sind auch die Vermieter gesprächsbereit. Es kommt zum Vergleich. Familie U. muß die Wohnung innerhalb von drei Monaten verlassen, muß aber nicht renovieren und keinen Schadenersatz für die Mietminderung ihrer Nachbarn zahlen. Der Pressesprecher des Landgerichts Itzehoe gibt erleichtert eine Pressemitteilung heraus: "Der Verlauf der Verhandlung bestätigt im besten Sinne des Intention des Gesetzgebers wonach die gütliche Einigung die beste Erledigung von rechtlichen Streitigkeiten ist." Das klingt weise, für Familien mit behinderten Kindern ist es ein schwacher Trost.

Weiterführende Links

    Pressestimmen zum Vorläufer Urteil gegen Behinderte in Düren | http://www.selbsthilfe-online.de/druckversion.php?id=47
    Das Kölner Skandalurteil von 1998 im Wortlaut | http://bit.ly/1lhugR5

 

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