Oberkochen ist nicht überall

06.04.2005 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Aber Behinderte sind hier bald nirgendwo mehr Ein Streit um das Benachteiligungsverbot und die Bahn

Menschen - Das Magazin der Aktion Mensch Heft 4/20005: Es geht um einen Bahnhof: früher barrierefrei zugänglich, jetzt modernisiert und garantiert behindertenfrei. Treppen statt Aufzüge machen es möglich. Und die Gerichte finden es in Ordnung.

Ein Verkehrsknotenpunkt ist Oberkochen nicht und auch kein Zentrum des Massentourismus. Oberkochen ist also eine Reise wert: Von hier gelangt man schnell zum Naturschutzgebiet Volkmarstein, dem Ursprung des „Schwarzen Kochers“, für Menschen mit Behinderungen bietet sich das barrierefrei zugängliche Optische Museum und Ausstellungszentrum von Carl Zeiss an und wer es etwas sportlicher mag, kann ein großes Freizeitbad nutzen. Für Menschen mit Behinderungen besonders praktisch: Der kleine Bahnhof von Oberkochen ist barrierefrei zugänglich. Das ist er allerdings nicht mehr lange, denn bald hält der Fortschritt Einzug in Oberkochen. Die Deutsche Bahn AG will nämlich die Strecke Aalen – Ulm verbessern und ist dafür zu erheblichen Investitionen bereit. Die Liste dessen, was schön, neu und gut wird ist lang. Von der Ertüchtigung der Strecke für den geplanten Betrieb mit Neigetechnikwaggons über die Errichtung eines neuen Mittelbahnsteigs mit Fußgängerunterführung bis zum Blindenleitsystem ist allerlei in den Planungsunterlagen aufgeführt. Allein: Der moderne Mittelbahnsteig ist nur noch über Treppen zugänglich. Für Rollstuhlfahrerinnen bringt die Modernisierung also das Aus mit sich. Zwar ist an sie auch gedacht worden: Für Menschen, die nicht gehen können sind zwei Aufzugsschächte vorgesehen, das Geld um darin auch noch Aufzüge einzusetzen wurde allerdings eingespart. „Kein Bedarf“ befand die DB Station & Service AG. In ihrer Richtlinie DS 813.01/2 hat sie schon vorsorglich festgelegt, dass bei Bahnstationen, die täglich von weniger als 1000 Reisenden genutzt werden ein behindertengerechter Zugang nicht erforderlich sei. Dem Bauherren geht es ums Geld.

Erstaunlicher ist, dass das Eisenbahn-Bundesamt, also eine öffentliche Stelle, den Sparkurs der DB Station & Service AG ohne mit dem Auflagenstift zu zucken genehmigt hat. Dabei heißt es in Paragraph 8 Absatz 2 des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) recht unmissverständlich: „Öffentlich zugängliche Verkehrsanlagen und Beförderungsmittel im öffentlichen Personenverkehr sind nach Maßgabe der einschlägigen Rechtsvorschriften des Bundes barrierefrei zu gestalten.“ Die einschlägige Rechtsvorschrift ist hier vor allem eine Vorschrift, die selbst Studierende der Rechtswissenschaften im Verlauf ihres Studiums kaum jemals zu Gesicht bekommen werden, die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung, kurz EBO, und hier vor allem deren Paragraph 2 Absatz 3, der verlangt, dass „die Vorschriften dieser Verordnung so anzuwenden (sind), dass die Benutzung der Bahnanlagen und Fahrzeuge durch behinderte Menschen und andere Personen mit Nutzungsschwierigkeiten ohne besondere Erschwernis ermöglicht wird.“

Die Tücke liegt hier im Detail, wie jetzt in einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes des Landes Baden- nachzulesen ist (Az: 5 S 1410/04), dem eine sehr restriktive Lesart des Gesetzes zugrunde liegt, die dem Eisenbahn-Bundesamt und der DB Station & Service AG erheblichen Spielraum bei den Überlegungen einräumt, wann die barrierefreie Gestaltung von Bahnhöfen erforderlich ist. Geklagt hatten der Bundesverband für Körper- und-Mehrfachbehinderte und der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter aus Krautheim. Das Verfahren ist damit auch eines der ersten mit dem das im BGG eingeführte Verbandsklagerecht für Behinderte genutzt wird. Die Verwaltungsrichter des Verwaltungsgerichtshofes, die vor kurzem noch ein Freiburger Fitnesscenter mit deutlichen Worten unter Anwendung der Vorschriften der Landesbauordnung verurteilt hatten, barrierefreien Zugang zu ermöglichen, auch wenn es derzeit keine behinderten Mitglieder hat, fixierten sich jetzt auf den Wortlaut des Gesetzes und befanden: Paragraph 2 der EBO errichte kein umfassendes Gebot zur Herstellung von Barrierefreiheit für Bahnanlagen und Fahrzeuge. Ausdrücklich gehe es nur darum, dass die Vorschriften der EBO selbst so angewandt würden, dass Benutzung der Bahnanlagen ohne besondere Erschwernisse ermöglicht wird. Die EBO enthält selbst aber keine Vorschrift, die verlangt, dass Bahnsteige einen barrierefreien Zugang erhalten müssten. Ergebnis der ausführlichen Erwägungen der Mannheimer Richter: Die Anforderungen an Private Bauherren sind nach baden-württembergischen Landesrecht gegenwärtig deutlich höher, als die Anforderungen an ein Unternehmen wie die Bahn.

Wer die Bahn zu umfassender Barrierefreiheit zwingen will, muss den Bundesgesetzgeber zwingen ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden. Außerdem hat der VGH Baden-Württemberg kritisch auf den sehr engen Umfang des Verbandsklagerechts hingewiesen, deswegen könne in diesem Verfahren auch nicht geprüft werden, ob das Eisenbahnbundesamt die Belange von Menschen mit Behinderungen, die die Bahnstation Oberkochen nutzen wollten bei der Genehmigung des neuen Mittelbahnsteigs ausreichend berücksichtigt hat. Dafür hätte es dann doch der Klage eines individuell betroffenen Behinderten bedurft. Die klagenden Behindertenverbände halten diese Rechtsauffassung für falsch.„Der VGH hat die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung zu eng ausgelegt und unsere Verbandsklage deshalb abgewiesen“, so Katja Kruse, Rechtsexpertin beim Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte. „Positiv ist jedoch, dass das Gericht auf die Unvollkommenheit der derzeitigen Regelung hinweist. Laut Urteilsbegründung hat es der Gesetzgeber bislang versäumt, dem Anliegen der Barrierefreiheit in jeder Hinsicht zu entsprechen.“ Da der Rechtsstreit die grundsätzliche Frage aufwirft, welche Anforderungen das Eisenbahnrecht an den behindertengerechten Umbau von Bahnsteigen stellt, legen die die beiden Bundesverbände jetzt Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein. Sollte das Bundesverwaltungsgericht die erstinstanzlichen Entscheidungen bestätigen, fordern die Bundesverbände eine Nachbesserung des Gesetzgebers. „Die Beseitigung behindertengerechter Zugänge zu Bahnsteigen schränkt die Mobilität ein und verhindert die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft. Solche Bauvorhaben widersprechen deshalb den Zielen des Behindertengleichstellungsgesetzes“, betont Aribert Reimann, Bundesvorsitzender des Bundesverbandes für Körper- und Mehrfachbehinderte. Die Situation ist paradox. Das Behindertengleichstellungsgesetz war schließlich eingeführt worden, damit die Teilhabe- und Gleichstellungsmöglichkeiten verbessert werden sollen. Jetzt erscheint es schon schwierig mit dem neuen Gesetz die Einschränkung der Mobilität von Behinderten zu verhindern. Dabei signalisiert die Zahl der barrierefreien Bahnhöfe, die im Verlauf dieses Rechtsstreits von der DB Station und Service AG präsentiet wurden, wie groß der Handlungsbedarf ist: Von 5580 Stationen sind gerade mal 2500 mit Rampen und Aufzügen ausgestattet, auch von den 1500 größeren Bahnstationen sind erst 900 barrierefrei zugänglich. Die Bahn, die gerade mit großem Aufwand ihr Programm vorgestellt hat, mit dem sie die Anforderungen des BGG umsetzen will, hat wirklich noch viel zu tun. Aber auch der Gesetzgeber hat noch einige Arbeit vor sich, sollen die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsgesetze zu wirksamen Instrumenten werden, mit denen Behinderte und ihre Verbände Fehlentwicklungen tatsächlich entgegensteuern. Dessen ungeachtet könnten auch die Gerichte ihr Scherflein zur Beseitigung von Benachteiligungen beitragen, indem sie die existierenden Reglungen nicht so konsequent restriktiv interpretierten und ihnen damit noch den schwachen Biß nähmen, den sie haben. Bis es soweit ist, müssen Behinderte aber vielleicht auch wieder verstärkt zu nicht-juristischen Aktionsformen greifen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg mittlerweile bestätigt: Urteil vom 05.04.2006, Az.: BVerwG 9 C 1.05 und 9 C 2.05.

 

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