Schafft zwei, drei, viele Afghanistans

06.10.1989 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Globalisierung

Veröffentlicht in: konkret 10 / 89, S. 36: Eine Kontroverse über den Abzug der Roten Armee aus Afghanistan

Zwei Jahre ist es her, da wurde in der westdeutschen Linken gestritten: ist der Bolschewik nur schick? Oder in Aufbruchstimmung? Bekommt die revolutionäre Theorie wieder Luft? Oder dreht sie sich selbst den Hahn ab? Seit einem Jahr sind wir alle klüger. KONKRET und "Arbeiterkampf", Positionspapiere radikaler Linker und PodiumsrednerInnen auf großen und kleinen Veranstaltungen haben eingeschätzt und festgestellt: Das "neue Denken" bringt den Sozialismus ans Ende, schwächt die internationale Position der Avantgarde der Arbeiter- und Bauernstaaten, führt dazu, daß die Trutzburg der Weltrevolution geschleift und nur ein kleines Häufchen nostalgischer Erinnerungen übrigbleiben wird.

"Und nun zieht die Rote Armee aus Afghanistan ab", markierte Hermann L. Gremliza in KONKRET 6/88, ein Jahr zuvor noch erfreuter Entdecker "bolschewistischer Kühnheit" in der Sowjetunion, seinen point of return: "Doch dieser Rückzug, der die afghanischen Genossen dem Killer Hekmatyar und seinen Glaubenskriegern ausliefert, ist mehr als die Korrektur einer falschen Einzelentscheidung. Er ist, in der Geschichte des proletarischen Internationalismus, das erste unübersehbar eindeutige Zeichen einer neuen Politik: des 'neuen Denkens'". Und neues Denken, daran blieb kein Zweifel, ist demnach das Gegenteil und nicht etwa die Weiterentwicklung des "alten Denkens", demzufolge die Weltrevolution, der "Aufbau einer Gesellschaft von Freien und Gleichen" gewagt werden müsse. Gremliza befand sich in guter radikaler Gesellschaft, hatte doch kurz zuvor auch der "Arbeiterkampf" festgestellt, daß die Afghanistan-Entscheidung "neues Denken im Härtetest" zeige, und klargemacht, daß der Rückzug der Roten Armee als Niederlage gedeutet werden müsse.

Heute wünscht man sich, die Kommentatoren hätten Recht behalten. Wäre Afghanistan der "Härtetest" für das "neue Denken" gewesen, könnte die Rückzugsentscheidung mit ihren Folgen als programmatisch für Entwicklung und Perspektiven des proletarischen Internationalismus gelten, die revolutionäre Linke der Welt könnte optimistisch in die Zukunft blicken. Allen Vorhersagen von links und rechts zum Trotz hat sich die Regierung Najibullah nach dem sowjetischen Truppenabzug nämlich stabilisieren und ihre Unterstützung durch die Bevölkerung vergrößern können. Ausgezählt werden derzeit dagegen die noch von den USA und von Pakistan unterstützten islamischen Contras.

Versucht man den Umgestaltungsprozeß in der Sowjetunion zu analysieren, muß man sich die zukunftsfrohe Verallgemeinerung allerdings verkneifen. Afghanistan ist in der Sowjetunion nicht überall, so wenig wie das "neue Denken" und die daraus entwickelte gesellschaftliche Praxis, die aus basisbestimmten ArbeiterInnen-Streiks besteht und aus gezielt geschürten nationalistischen Unruhen, mit einem Etikett versehen werden können. geprüft und für sozialdemokratisch befunden.

Die Ursachen für die unerwartete Entwicklung, die allerdings noch nicht abgeschlossen ist und durchaus auch künftig noch das Risiko des Scheiterns in sich birgt, sind ansatzweise analysiert worden (KONKRET 9/89). Über die alte Kritik am neuen Denken ist allerdings der Mantel des Schweigens gedeckt worden. Wieso war sich die westdeutsche Linke 1988 so sicher, daß der militärische Rückzug als politische Niederlage gesehen werden muß? Wie konnte ausgerechnet die Beendigung einer auch von den meisten Linken scharf kritisierten Intervention auf fremdem Territorium als Rückzugsgefecht des proletarischen Internationalismus verstanden werden?

Offensichtlich wurde 1988 keine sorgfältige Analyse der konkreten Situation in Afghanistan, der begangenen Fehler und der notwendigen Konsequenzen vorgenommen, es wurde bloß eingeschätzt. Ein Rückzug entspricht im allgemeinen einer Niederlage, einmal gewonnenes Terrain aufzugeben erscheint, unseren Erfahrungen zufolge, in einer ohnehin schon krisenhaften Situation als Kapitulation. Mehr als die realen Perspektiven Afghanistans interessierte die Frage: Realsozialismus - Erneuerung oder Untergang?

Die Kritik am Truppenrückzug impliziert, daß ein Verbleiben der Truppen im fremden Land richtiger gewesen wäre. "Vielleicht hätten sie nie dort einziehen dürfen", gab Gremliza zwar vorsichtig zu bedenken, er meinte damit aber: Die Korrektur des Fehlers macht alles nur noch schlimmer. Ob ein auch schwerwiegender Fehler korrigiert werden soll oder nicht, wird von der Beantwortung der Frage, wem das eine, wem das andere nützen könnte, abhängig gemacht - und damit revolutionäre Strategie der Taktiererei geopfert. Um dazu zu kommen, muß man sich am Abgrund wähnen: Nach vorne gibt es keinen Ausweg, und hinten lauert der Feind. Stillstand, so der Trugschluß in der als aussichtslos erkannten Lage, gewährleistet wenigstens, daß niemand abstürzt. Etwas Besseres als den Tod findest du überall! Die Bremer Stadtmusikanten haben sich, jeweils kurz vor ihrem Ende, entschieden aufzubrechen. Das Risiko war groß, der Weg ging ins völlig Ungewisse, aber die Fortsetzung der alten Geschichte, mit ihrem sicheren Ende, schien der Crew trotzdem das Schlimmere zu sein.

Sozialismus ohne Selbstbestimmung ist nicht vorstellbar. Dabei geht es nicht um das Selbstbestimmungsrecht einer Nation, sondern um das einzelner (nicht vereinzelter) Menschen und Kollektive - die Rote Armee in Afghanistan konnte die Afghanen weder bei der Erlangung des Einen noch des Anderen unterstützen. Sie konnte nicht für einen Sieg im Volkskrieg kämpfen, sondern nur als Ordnungsmacht agieren. Die Aggression von außen, die zur Rechtfertigung des Einmarsches angeführt wurde, existierte zwar zweifelsohne, sie blieb aber verdeckt. Offensichtlich und spürbar aggressiv und damit leicht politisch angreifbar handelte dagegen die Rote Armee. Sozialismus kann langfristig aber weder in erster Linie militärisch hergestellt noch auf Dauer militärisch verteidigt werden (so wenig, wie es in der Regel gelingt, ihn ausschließlich militärisch niederzuringen).

Die Erkenntnis autonomer Anti-AKW-Gruppen, daß es vor allem darauf ankommt, die Strommasten in den Köpfen der Menschen zu fällen, gilt natürlich noch viel mehr, wenn es um die Errichtung eines und sei es auch nur real-sozialistischen Staates geht. Im Kampf dafür, daß der Mensch sich aufrichtet, seine "noch nicht ausdeterminierten Fähigkeiten" (Bloch) gegen seine Unterdrückung einsetzt, erweist es sich als kontraproduktiv, wenn das Militär die Avantgarde bildet: dessen fürsorglich und stellvertretend geführter Abwehr- und Befreiungskampf kann zwar Fakten schaffen, aber schwerlich überzeugen. Um eines kurzfristigen Vorteils willen zum brachialen Gewaltmittel der militärischen Invasion zu greifen, ist für einen Staat, der den Anspruch hat, einer freiheitlichen, auf Selbstbestimmung und Emanzipation orientierenden Theorie zu genügen, eine politische Bankrotterklärung (und zieht leicht eine militärische Niederlage nach sich).

Der Erfolg der afghanischen Regierung ist um so bemerkenswerter, als die Entwicklung in Ländern wie Polen (und auch der DDR) zeigt, wie verheerend weit weg von jeder Form von Sozialismus Repression und um Sicherheit bedachte politische Bewegungslosigkeit führen können - auch wenn die sowjetischen Truppen noch im Lande sind. Solange es den sogenannten demokratischen Parteien in den imperialistischen Ländern gelingt, Freiheit und Menschenrechte als antikommunistische Werte erscheinen zu lassen, bleibt die radikale Linke weltweit nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch in der Defensive. Insofern war der Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan eine Offensive, deren Chancen wir bisher allerdings nicht genutzt haben.

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