Stammheim vergessen

05.01.1999 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Deutschland aktuell

Veröffentlicht in: Konkret 01 / 99, S. 26: Otto Schily ist sich treu geblieben: Der neue Innenminister tut, was er als RAF-Anwalt nicht lassen konnte

"Ich denke, daß der Typ in jedem Prozeß stört. Also dann lieber Pflichtverteidiger, die man als Bullen in Roben bezeichnen kann." Andreas Baader in einem Kassiber 1975 über den Wahlverteidiger Otto Schily

"Das sind die gleichen Bilder: das jüdische Kind im Ghetto, das mit erhobenen Händen auf SS-Leute zugeht, und die vietnamesischen Kinder, die schreiend, napalmverbrannt den Fotografen entgegenlaufen." Otto Schily als Verteidiger am 121. Tag des Stammheimer Prozesses, 1976

KONKRET: Helmut Kohl prophezeit den langsamen Übergang der grünen Abgeordneten zur SPD binnen zwei Jahren ... Schily: ... Von solchen Prophezeiungen halte ich nichts. Gespräch mit den Fraktionssprechern der Grünen, KONKRET 1984

"Das Geheimnis der Individualität liegt darin, daß es die Brücke ist zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Das Ich des Menschen ist sein Ursprung und Ziel zugleich." Zehn Jahre ist es jetzt her, daß der heutige Bundesinnenminister diese autobahnbrechende Erkenntnis für eine Werbekampagne der Porsche AG in Worte gefaßt hat - zur Belohnung attestierten ihm die Werbetexter auf ihren Hochglanzseiten, er, der Spitzenpolitiker der Grünen, gehöre zu den "Menschen, die die Welt bewegen". Eine Welt, die schön ist, so lobte Schily bewegt zurück, weil alles in ihr Platz findet: "die Warenvielfalt, die Marktfülle und der Ideenreichtum von Produzenten und Konsumenten".

Zwanzig Jahre vorher, 1968, hatte Otto Schily, damals erfolgreicher Wirtschaftsanwalt, vor dem Landgericht Frankfurt a. M. noch mit Engagement Menschen vertreten, die nachhaltige Einwände gegen die Marktfülle und den Ideenreichtum der Produzenten hatten: Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Thorwart Proll. Die Verteidigung der Kaufhausbrandstifter war der Auftakt einer zehn Jahre währenden Karriere Schilys als so übelbeleumdeter wie bestaunter "Linksanwalt", dem die "Welt" in einem lichten Moment bescheinigte: "Er ist ein Beau mit Linksdrall. Schily hält viel auf sich und vor allem viel von seiner Gesinnung. Er ist ein Linker mit vielleicht radikaler Gesinnung, ein Linksradikaler der Tat ist er nicht und auch kaum dazu geeignet." Zehn Jahre nach dem spektakulären Kaufhausbrandstifter-Verfahren, 1978, schloß Schily das Kapitel "politische Prozesse" für sich ab. "Für ein halbes Jahr will er Fälle, welche die Auseinandersetzung mit der ›Roten Armee Fraktion‹ berühren, nicht mehr übernehmen, sondern von außen über die Zeit der Konfrontation nachdenken", reportierte damals der "Spiegel" und widmete Schily, dem "typbildenden Strafverteidiger Deutschlands", ein ausführliches Porträt.

Für Schily waren die Erfahrungen in den großen politischen Prozessen zwischen 1968 und 1978 prägend: Als RAF-Verteidiger wurde er bekannt und konnte zu Hochform auflaufen - und gleichzeitig stieß er in diesen Jahren an seine Grenzen. Zwar konnte er sich gegen den Vorwurf wehren, Kassiber für seine Mandantin, die er öffentlich noch "Fräulein Ensslin" nannte, geschmuggelt zu haben - das Bundesverfassungsgericht gab in einem aufsehenerregenden Beschluß seiner Verfassungsbeschwerde gegen die Entpflichtung als Wahlverteidiger Ensslins statt; auch hatte Schily mit seinen Vorstößen, den Vorsitzenden Richter Prinzing in Stammheim für befangen zu erklären, letztlich Erfolg und erreichte ebenso die Öffentlichkeit mit seinem Vorwurf, daß Gespräche zwischen den RAF-Gefangenen und ihren Anwälten abgehört würden. Aber so erfolgreich Schily als Vermittler der Verteidigungsstrategie in der bürgerlichen Öffentlichkeit auch war, so gut es ihm auch gelang, sich als unabhängiger Verteidiger selbst gegen die von ihm Vertretenen zu profilieren - am Ende des Stammheimer Prozesses lebte von seinen drei Mandanten aus RAF und Umfeld keiner mehr.

Am Tod von Katharina Hammerschmidt traf ihn sogar direkte Verantwortung: Schily war es, der im Mai/Juni 1972 der wegen RAF-Mitgliedschaft gesuchten und nach Frankreich geflohenen Frau anriet, sich zu stellen. Die 28jährige wurde sofort in Haft genommen, ein Tumor von den Gefängnisärzten nicht diagnostiziert; erst als die Wucherung bereits kindskopfgroß war und Metastasen gebildet hatte, wurde sie medizinisch behandelt und schließlich aus der Haft entlassen; sie starb 1975. "Ich habe die Gnadenlosigkeit unterschätzt, mit der der Staatsapparat seinen Gegnern oder vermeintlichen Gegnern gegenübertritt", resümierte Schily.

Dann stirbt unter bis heute nicht geklärten Umständen seine Mandantin Gudrun Ensslin im Stammheimer Isolationstrakt. In einer Pressekonferenz bezweifelt Schily die offizielle Version, derzufolge es sich um Selbstmord handele. Am 12. November 1977 wird Ingrid Schubert, die im August aus Stammheim weg nach Stadelheim verlegt worden war, die letzte seiner RAF-Mandantinnen, in der Haft tot aufgefunden: Auch ihr angeblicher Selbstmord, den Schily damals allerdings als "nicht außerhalb der Reichweite der menschlichen Erfahrungen" hinnimmt, hat bis heute unbeantwortete Fragen aufgeworfen.

Die Stammheimer Erfahrungen führen auf ein Terrain, das Schily gerade nicht betreten wollte: Außenseiter zu sein, schärft zwar den Blick und das eigene Profil, bedeutet aber etwas anderes, als dem Staat und der Justiz den Kampf anzusagen. Schon in seiner Zeit als RAF-Verteidiger hat Schily deutlich gemacht, daß er nicht bereit sein würde, gegen die Justiz anzutreten, sondern, daß er allenfalls innerhalb des gegebenen Rahmens besonders effektiv handeln wolle. Die Protestaktion der Verteidiger, die 1973 in Schlafsäcken vor dem BGH gegen Isolationshaft protestierten, hat er nicht mitgemacht; als Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter 1976 von einem Kommando der RAF erschossen wurden, verurteilte Schily zusammen mit anderen Strafverteidigern den Anschlag als "hinterhältige Ermordung" und "schweres Verbrechen am Rechtsstaat"; nach der Stammheimer Todesnacht griff er die staatlichen Selbstmordversionen zwar an, die intensiven Bemühungen um eine Aufklärung der Todesfälle machte er aber nicht mehr mit. "Mir ging es ja nicht darum, den Staat zu zerstören, sondern - ganz im Gegenteil - die rechtsstaatlichen Prinzipien auch in einem so schwierigen Prozeß zu verteidigen." Diese Erklärung, die Schily im September 1998 der "Woche" gegeben hat, ist kein nachträglicher Legitimationsversuch. Schily wollte wirklich beweisen, daß es geht. Es ging nicht. Und vor die Wahl gestellt, dieses Faktum brutum zu akzeptieren oder nicht und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, hat sich Schily entschieden, seinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen zu machen.

Als gelte es, diese Entscheidung und die ihr zugrunde liegende Niederlage zu verdecken, hat sich der Sohn aus einem Industriellen-Haushalt seither eifrig darum bemüht, auch seine Weggefährtinnen und Weggefährten auf staatsfreundlichen Kurs zu bringen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheiten missionierte der Jurist, der der "Gewaltdiskussion in der Bundesrepublik" 1972 ein "erbärmliches Niveau" bescheinigt hatte, im Kreis der Grünen und der neuen sozialen Bewegungen für das Gewaltmonopol des Staates und pries die Qualität des Rechtsstaates. Und wenn sich keine Gelegenheit dazu bot, schaffte er sich eine.

Gegen das Strommast-Knacken militanter AKW-Gegner zog er zu Felde, der Friedensbewegung wollte er Gewalt gegen Sachen am liebsten ganz verbieten, in Gesprächen vertrat er die Ansicht, daß jeglicher Widerstand gegen die Staatsgewalt eine Art Einstiegsdroge in den "Terrorismus" wäre. Selbst der Aufruf zum Volkszählungsboykott war Schily in seiner Spätphase bei den Grünen schließlich zu militant. Eng verknüpft damit war sein Eintreten für eine "Politik der Mitte" und konstruktive Opposition. "Können Sie sich vorstellen, auch zu Gesetzentwürfen der Bundesregierung Ja zu sagen?", fragte ihn direkt nach dem ersten Einzug der Grünen in der Bundestag der Kölner "Express": "Das kommt auf den Inhalt an. In Sachfragen sind wir zur Zusammenarbeit mit allen Parteien bereit." Wenige Wochen später räsonnierte er öffentlich über das Verhältnis von Konservativen und Grünen: "Richtig ist sicher, nicht von vornherein ein Feindbild aufzubauen nach dem Motto: Wer Strauß wählt, ist ein Idiot. Man sollte danach fragen, welche Wunschvorstellung dahintersteckt, wenn jemand Strauß wählt."

Eine offenes Herz hatte Schily auch für die hierzulande üblichen geschichtsrevisionistischen Tendenzen. Der Anwalt, der sonst peinlich auf eine Distanz zu den extremen politischen Ansichten der außerparlamentarischen Bewegungen achtete, ging im gedanklichen Mainstream der Friedensbewegung auf. Die Nato-Nachrüstung inspirierte ihn wie viele andere zur Phantasie von einem "atomaren Auschwitz". Dem "Spiegel" erläuterte er: "Wir müssen uns bewußt bleiben, daß der sogenannte Ernstfall Auschwitz um das Vielfache übertreffen wird." Daß er trotz dieses Horror-Szenarios nur "gewaltfreien Widerstand" zulassen wollte und auch das nur, weil sich "kürzlich ein Bundesrichter ähnlich geäußert (hat)", zeigt, wie ernstlich Schily sich mühte, nicht noch einmal in eine Konfrontation mit der Staatsgewalt zu geraten.

Die Friedensbewegung gab Schily dann auch die Gelegenheit, seine Liebe zum deutschen Volk zu entdecken, dessen Genossen ihn einige Jahre zuvor noch mit Droh- und Schmähbriefen überhäuft hatten. In der Nachrüstung sah er den Versuch, "das Existenzrecht eines Volkes per Vertrag" abzuschaffen. Dagegen wollte er eine "konsultative Volksbefragung" setzen und tönte im "Spiegel" wie das Echo der deutschnationalen Erweckungsbestrebungen: "Wir sollten außerdem nicht übersehen, daß die Souveränitätsfrage zur Debatte steht. Denn die Tatsache, daß der amerikanische Präsident über Sein und Nichtsein der hiesigen Bevölkerung zu entscheiden hat, trifft die Souveränität ins Mark."

Daß er in den späten achtziger Jahren immer wieder für eine Neuvereinigung Deutschlands plädierte, rundet den Eindruck ab, den Schily auf dem Weg zum volksnahen Elder statesman hinterlassen hat. Sein Engagement für die deutsche Solidarität mit der arabischen Welt und insbesondere für den Volksgemeinschaftsideologen Ghadafi, den er 1983 auf Einladung der "libyschen Revolutionskomitees" besuchte und dessen Grünes Buch er im "Spiegel" lobte, blieb allerdings eine Episode. Während in der grünen Bundestagsfraktion antizionistische Israelfeindschaft zum guten Ton gehörte, folgte Schily gemeinsam mit anderen Realos und zum Entsetzen der Fraktionslinken 1987 einer Einladung der israelischen Regierung. "Realo-Grüne über Israel begeistert / Delegation drückt sich um Erklärung zu besetzten Gebieten", mokierte sich damals die "Taz". Aber der Streit über Israel, der in der Fraktion folgte, war schon von Schilys Abkehr von den Grünen geprägt: Mit der Kritik an seinen Starallüren mochte er sich nicht auseinandersetzen, und parteipolitische Taktiererei lag ihm nicht.

Als die NRW-Grünen ihm keinen aussichtsreichen Listenplatz für die Bundestagswahl 1990 gaben, legte er sein Mandat nieder und trat zur SPD über, die ihm einen Platz auf der bayrischen Landesliste versprach. Daß die Grünen auch ohne ihn auskamen, viele seinen Weggang sogar begrüßten, hat Schily ihnen nie recht verziehen. Es war seine zweite große Niederlage, die er jetzt in der rot-grünen Koalition in einen Sieg verwandeln will.

Als Innenminister sucht er den Einfluß auf die grüne Parteipolitik zu nehmen, der ihm in den letzten Jahren seiner Mitgliedschaft versagt geblieben ist. Dieser Drang, die alten Mitstreiter/innen zu bekehren, um den eigenen Weg als einzig richtigen erscheinen zu lassen, hat ihn vor einigen Monaten auf die Idee gebracht, eine Fusion der Grünen mit der SPD vorzuschlagen. "Ich glaube, daß die Grünen noch Lernbedarf haben", erklärte er in der "Woche" kurz vor der Bundestagswahl: "Vor einigen Jahren war Antje Vollmer partout nicht dazu zu bewegen, das Gewaltmonopol des Staates als friedensstiftend anzuerkennen. Inzwischen ist das bei den Grünen durch. Jetzt müssen sie nur noch den kleinen Schritt weitergehen und anerkennen, daß der Staat auch von seinem Gewaltmonopol Gebrauch machen darf." Die Amtshandlungen des Innenministers lassen sich so auch als Erziehungsprogramm lesen: Schon in den Koalitionsverhandlungen ist er als einer der härtesten Widersacher seiner früheren Parteifreunde aufgetreten. Jetzt eskaliert er zielsicher Konflikte an den für die Grünen empfindlichen Stellen. Seine Absage an die Bestrebungen, die lebenslange Freiheitsstrafe abzuschaffen, gehört ebenso dazu wie sein Plädoyer für mehr Autorität der Polizei.

Vor allem aber sein Vorstoß für eine restriktive Migrations- und Asylpolitik ist darauf gemünzt, seiner Ex-Partei den letzten Rest eigenständigen Profils zu schleifen. Die Reaktionen der Grünen dürften ihm Freude bereitet haben: Sichtlich unvorbereitet und ohne den Ansatz einer Strategie, wie mit dem missionarischen Innenminister umzugehen wäre, haben sich die grünen Spitzenpolitiker darauf beschränkt, Phrasen zu dreschen. Daß ihnen nicht mehr einfällt als festzustellen, daß Schilys Vorstöße "zur Unzeit" kämen, wie Rezzo Schlauch analysierte, oder der Vorwurf, er lasse es an "Sensibilität" mangeln, sowie die milde Rüge, seine Äußerungen zur Ausländerpolitik seien "kontraproduktiv", die die grüne Integrationsbeauftragte Beck-Oberdorf formulierte, zeigen Schily, daß er auf dem richtigen Weg ist: Die Grünen sind in der Defensive, seine Position gibt dagegen den Orientierungspunkt ab.

Auch sonst wird der Anwalt mit dem gutentwickelten Selbstbewußtsein und dem ausgeprägten Wunsch, Stammheim zu vergessen, zufrieden in den "Spiegel" gucken können: Daß die anderen nicht kapieren wollen, inwiefern der Richtervorbehalt beim großen Lauschangriff eine juristische Errungenschaft ist, und daß sie nicht zur Kenntnis nehmen, daß schon Wilhelm von Humboldt ein "Grundrecht auf Sicherheit" postulierte, kann schließlich an der Richtigkeit seiner Meinungen nichts ändern. Verkannt zu werden, ist er gewohnt - es bestätigt sein elitäres Selbstverständnis. Trotz seines Hangs zur Mitte gibt er nicht viel auf Popularität. Den Ausbau staatlicher Macht und Autorität betreibt er aus Überzeugung. Die "FAZ" notierte im Wahlkampf: "Schily befindet sich in der Rolle des Kritikers, der endlich zeigen will, daß man es besser machen kann. Angesichts dieser Aufgabe ist die Einschränkung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung ein Detail, auf das er nicht viel gibt, weil er glaubt, daß es im Zweifelsfall nicht schadet." Denn ein Staat, in dem ein Schily Innenminister ist, kann, meint Schily, nur ein liberaler Rechtsstaat sein - formale Garantien braucht es da nicht mehr.

Dateien:

Logo Adobe PDF

1153396396.pdf(PDF Dokument, 17,63 Ki Größe)

 

Zurück zur Übersicht