Warum so förmlich?

05.03.2004 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Recht

Handel statt Verhandlung: Der rot-grün reformierte Strafprozeß

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2004, Nr. 55 / Seite 41: Die rot-grüne Koalition will das Strafprozessrecht umfassend reformieren - nicht, um dem Druck der straße nachzugeben, sondern aus Prinzip. Das Ergebnis stimmt nicht glücklich.

Die Strafprozeßordnung, so hat es das Bundesverfassungsgericht Anfang der siebziger Jahre ausdrücklich formuliert, ist "angewandtes Verfassungsrecht". Noch pathetischer ist sie von Juristen auch als "Magna Charta des Beschuldigten" bezeichnet worden. Auf dem Strafverteidigertag, der dieses Wochenende passenderweise am Sitz des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe stattfindet, wird erstmals öffentlich über den "Diskussionsentwurf für eine Reform des Strafverfahrens" diskutiert werden, den die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor wenigen Tagen vorgelegt haben.

Es überrascht nicht, daß die Regierungsparteien in dem knapp sechzigseitigen Konvolut zwar einerseits vollmundig eine "umfassende Reform" und ein "geschlossenes Gesamtkonzept" versprechen, andererseits aber einen nüchtern-technokratischen Sprachstil pflegen und so jeden Gedanken daran, daß es hier um mehr gehen könnte als um die bloße Organisation von Ermittlungs- und Verhandlungsabläufen, sinnlos pathetisch erscheinen lassen. "Die Reform des Strafverfahrens verfolgt das Ziel einer zukunftssicheren Weiterorientierung des Strafverfahrens, das die Rechte aller Beteiligter unter grundsätzlicher Beibehaltung der bewährten Strukturen verstärkt." So beschreiben die Verfasser des Entwurfs ihre Zielsetzung. Was wie eine Leerformel klingt, bringt tatsächlich das Dilemma dieses Entwurfs auf den Punkt. Die Beteiligten sind nämlich keine homogene Gruppe, deren Rechte sich zum Besten aller einfach verstärken ließen. Denn was die Stellung des Beschuldigten stärkt, wird zumeist die der Nebenkläger schwächen - vor allem aber gilt das angesichts der zunehmenden Orientierung der rechtspolitischen Diskussion auf die Opfer von Verbrechen für den umgekehrten Fall.

Der "Diskussionsentwurf" ist nach den Vorstellungen seiner Verfasser auch in Zusammenhang zu sehen mit dem Justizmodernisierungsgesetz und dem gerade vom Bundestag verabschiedeten Opferrechtsreformgesetz. Ein gemeinsames Ziel aller drei das Verfahrensrecht umgestaltenden Reformvorhaben ist, neben der Straffung der Hauptverhandlung, die Stärkung der "Opferrechte". Diese Bezeichnung ist an sich allerdings auf bezeichnende Weise irreführend. Die Strafprozeßordnung regelt das Verfahren, das allererst der Aufklärung der Ereignisse dient. Da der Angeklagte bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig zu gelten hat, kann oftmals noch gar nicht feststehen, ob die Person,die als Opfer oder Verletzter auftritt, tatsächlich durch eine Straftat geschädigt worden ist.

Die neue Strafprozeßordnung soll Opfer von Straftaten vor allem dadurch entlasten, daß sie ihnen den Auftritt in der öffentlichen Hauptverhandlung erspart. Bisher legt Paragraph 250 StPO fest, daß Zeugen in der Hauptverhandlung persönlich zu vernehmen sind. Ausnahmen von diesem Prinzip der Mündlichkeit sind zwar schon in den letzten Jahren vor allem im Rahmen von Zeugenschutzregelungen in erheblichem Umfang gemacht worden. Mit dem neuen Entwurf der Strafprozeßordnung wird diese Regel aber so weit demontiert, daß sie nach seiner Verabschiedung keine grundsätzliche Bedeutung mehr beanspruchen könnte: Aussagen von Zeugen und Verletzten sollen in erheblich weiterem Ausmaß als bisher in der Hauptverhandlung nur noch durch Verlesung von Vernehmungsniederschriften aus dem Ermittlungsverfahren eingeführt werden.

Dem Einwand, daß damit die Rechte des Beschuldigten beschnitten werden, können die Verfasser des Entwurfs allerdings begegnen: Auch der Beschuldigte und sein Verteidiger sollen im Ermittlungsverfahren erhebliche Mitwirkungsrechte erhalten. So sieht ein neu konzipierter Paragraph 161a StPO vor, daß bei staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen von Zeugen, Mitbeschuldigten und Sachverständigen der Verteidiger das Recht zur Mitwirkung haben soll, vorausgesetzt allerdings, daß dadurch nicht der Untersuchungszweck gefährdet wird. Strafverteidiger fordern seit langem stärkere Einflußmöglichkeiten im Ermittlungsverfahren, weil hier schon heute wesentliche Weichenstellungen vorgenommen werden, die in der Hauptverhandlung oft nur noch schwer zu korrigieren sind.

In diesem Verfahrensabschnitt aber Mitwirkungsmöglichkeiten zu schaffen, die durch eine Begrenzung des Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatzes in der Hauptverhandlung kompensiert werden, erscheint in zweierlei Hinsicht bedenklich. Auch wenn die Strafverteidiger im Ermittlungsverfahren zum Zuge kommen, ist hier keine Waffengleichheit mit der Staatsanwaltschaft gegeben, die Herrin des Ermittlungsverfahrens bleibt und eben nicht die Unabhängigkeit eines Richters hat. Vor allem aber ist das Ermittlungsverfahren auch weiterhin nicht öffentlich. Der Ort der Öffentlichkeit ist die Hauptverhandlung. Wenn hier aber im wesentlichen nur noch Urkunden eingeführt, Protokolle verlesen und Tondokumente abgespielt werden, könnte die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit, um die es ohnedies nicht zum besten steht, vollends zur Farce werden. Ein Strafverfahren ist nicht nur eine Angelegenheit zwischen den anwaltlich vertretenen Angeklagten, Nebenklägern und dem Staatsanwalt. Denn, wie Anselm von Feuerbach, der Begründer der modernen Strafrechtswissenschaft, prägnant formuliert hat: "Wo der Amtsgenosse nur seinesgleichen zu scheuen hat, ist jeder geneigt, dem anderen die Nachsicht zu gewähren, welche er vielleicht irgend einmal auch von ihm für sich selbst in Anspruch zu nehmen hat."

Die Förmlichkeit des Strafverfahrens, die in den strengen Beweis- und Verfahrensregeln, die für die Hauptverhandlung gelten, ihren Niederschlag findet, ist für die auf, wie es in einer Pressemitteilung der SPD heißt, "Optimierung" setzenden Autoren des Entwurfs offenbar ein anachronistisches Relikt. Daß eine Verhandlung auch als Ritual Bedeutung haben kann, ist ihnen als Gedanke erst recht fremd. Deswegen wird im Entwurf auch ein neu gefaßter Paragraph 257b StPO als besonderes Prunkstück ausgestellt: "Das Gericht kann mit Einverständnis des Angeklagten unter freier Würdigung aller Umstände des Falles eine Strafobergrenze angeben, die unter dem Vorbehalt einer Bewertungsänderung im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung steht." Das, was in der Begründung des Entwurfs als Ermunterung zur Kommunikation bezeichnet wird, ist nichts anderes als die gesetzliche Normierung der heute schon praktizierten, vielfach beklagten Absprache im Strafprozeß, die an die Stelle der mühseligen Wahrheitsfindung den vor allem in Wirtschaftsstrafsachen höchst praktikablen Deal setzt.

Insgesamt betrachtet, ist der Entwurf für eine neue Strafprozeßordnung kein großer, die Strafprozeßordnung insgesamt systematisch reformierender Entwurf. Allerdings folgen die vielen kleinen und größeren Veränderungen, die darin vorgenommen werden, dem verbreiteten und auch jetzt schon im Strafprozeß erkennbaren Trend, an die Stelle klarer formalisierter Regeln "als Option die verstärkte Nutzung kommunikativer Elemente" (so die Begründung des Entwurfs) zu setzen. Wenn diese Umgestaltung gelingt, mögen Beschuldigte und Nebenkläger, vielleicht auch der Justizhaushalt davon vereinzelte, vielleicht sogar bemerkenswerte Vorteile haben. Die Legitimität des Strafverfahrens wird durch seine pragmatisch orientierte Umgestaltung aber beschädigt. Im Verfahren geht es um formelle Wahrheitsfindung und Anerkenntnis oder Befreiung von Schuld, und das sind keine Größen, die sich technokratisch handhaben lassen.

Weiterführende Links

    Der erste Koalitionsentwurf für eine neue Strafprozessordnung | http://www.anwaltverein.de/01/depesche/texte04/Disk-entw.pdf

 

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