Wie unabhängig kann der neue Internationale Strafgerichtshof sein?

10.06.2003 | AutorIn:  Dr. Oliver Tolmein | Internationales Recht

Ein Radio-Feature über Entwicklungen und Probleme des neuen internationalen Strafrechts

Sendung DLF 10. Juni 2003: Ein Feature über den neugeschaffenen Internationalen Ständigen Strafgerichtshof und die Entwicklung des internationalen Strafrechts. Eine CD dieses Features kann auf Anfrage für Bildungszwecke per e-mail beim Autor bestellt werden.

Weißes Rauschen

Zitator: Ich habe gesehen, wie die Familie des Apothekers erschossen wurde. Eine ganze Familie mit fünf Kindern. Den Vater, die Mutter und die Kinder. Sie haben sie in Veva erschossen. Sogar den Maultiertreiber. Sie haben alle nach zwei Tagen dort umgebracht. Was meine Familie anbelangt, so kann ich nur sagen, dass sie meine kleine Schwester töteten. Sie haben ihr ein Bajonett in den Bauch gejagt, so wie sie meine Mutter auf den Arm hielt. Sie haben meine Mutter umgebracht - sie war meine Stiefmutter - meinen Opa; meinen Bruder Giorgos haben sie in den Kopf geschossen, ein glatter Schuss; er war damals sechs Jahre alt. Er hat mit einem kaputten Kinn überlebt und ein Paar Zähne verloren. Am nächsten Tag ging ich mit meinem Vater ins Dorf und haben alle beerdigt. Mein Vater hat meinen kleinen Bruder am Fuß gefasst und da haben wir gesehen, dass er noch blutete. Mein Vater holte mit dem Finger einen Klumpen Blut aus dem Mund meines Bruders. Er hat überlebt. Wir brachten ihn hierher und das "Rote Kreuz" übernahm ihn.

Sprecherin 1: Giannis Basdekis, 10. Juni 1944, Distomo, Griechenland

O-Ton 1 Luis Moreno Ocampo (Im Original Englisch): Seit dem Staatsstreich 1976 in Argentinien attackierten Armeeangehörige und Mitglieder der Sicherheitsdienste die Gesellschaft, die sie schützen sollten. Sie entführten Menschen und folterten sie, ohne Gerichtsverfahren und im Geheimen ermordeten sie über 15000 Menschen und ließen ihre Leichname verschwinden. Bürger konnten den Staat nicht um Hilfe bitten, weil der Staat die Taten verübte. Deswegen gingen sie zu Menschenrechtsgruppen und suchten internationale Unterstützung.

Sprecherin 1: Der Chefankläger des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes, der Argentinier Luis Moreno Ocampo, bei seinem ersten Auftritt vor den Medien am 22. April 2003 in New York.

Zitatorin: Ich war immer nackt. Sie konnten ein, zwei oder drei Mal am Tag kommen. Sobald ich den Lärm ihrer Stiefel auf dem Gang hörte, begann ich zu zittern. Dann erschienen mir die Minuten wie Stunden und die Stunden wie Tage. Das Schlimmste war, die ersten Tage durchzuhalten, sich an die Schmerzen zu gewöhnen. Danach nimmt man mental Abstand, als ob der Körper zu schweben beginnt. Ich habe Bigeard oft angeschrien: Wenn Sie ein Mensch sind, bringen Sie mich um. Er antwortete mir höhnisch: Noch nicht. Noch nicht! Während dieser drei Monate hatte ich nur ein Ziel: mir das Leben zu nehmen. Sie haben meine Eltern verhaftet und fast alle meine Geschwister. Mama haben sie drei Wochen lang damit gequält, ihr immer wieder den Kopf unter Wasser zu drücken gequält. Eines Tages haben sie meinen dreijährigen Bruder zu ihr gebracht. Sie haben ihn vor ihr aufgehängt, bis er bewusstlos war. Eines Abends, als ich meinen Kopf bewegte, um meine Schmerzen zu beruhigen, kam jemand an mein Bett. Er schlug meine Decke zurück und rief erschrocken aus: Meine Güte! Sie sind ja gefoltert worden! Wer hat das getan? Wer? Ich habe nichts geantwortet. Normalerweise wurde ich nicht gesiezt. Ich war sicher, dass das eine Falle war.

Sprecherin 1: Louisette Ighilahriz, Algerienkrieg, 1957

O-Ton 2 Luis Moreno Ocampo (Im Original Englisch): Ohne den internationalen Druck wäre das Morden nicht beendet worden. Und es ist auch dem internationalen Engagement zu verdanken, dass die Kriminellen verurteilt und bestraft wurden. Die Berichte der Vereinten Nationen und die von Menschenrechtsgruppen ermöglichten es den Anklägern Beweise und Zeugenaussagen zu sammeln, um so das Verfahren gegen die Junta-Mitglieder durchzuführen und die Verurteilung der Verantwortlichen zu erreichen. Aber es wird Fälle geben, in denen die Nationalstaaten nicht in der Lage oder nicht willens sein werden, ihrer Pflicht zur Aufklärung und Verurteilung nachzukommen. In diesen Fällen muss der Internationale Ständige Strafgerichtshof die Lücke füllen, die die Nationalstaaten geschaffen haben.

O-Ton 3 Lee A Casey (Im Orginal Englisch): Das Rom Statut des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes ist ein bemerkenswerter Abschied vom herkömmlichen Internationalen Recht: Es schafft einen supranationalen Strafgerichtshof, der aber den Menschen, über die er Rechtsgewalt ausübt in keiner Weise rechenschaftspflichtig ist. Nicht einmal gegenüber den Vertragstaaten des Statuts muss er sich verantworten. Sicher: korrupte Richter können abgesetzt werden, aber seine eigentliche Rechtsgewalt ist nicht in ein System von Checks and Balances eingebunden. Deswegen halte ich es für ein fundamental undemokratisches Gericht.

Sprecherin 1: Lee Casey, Anwalt und zeitweiliger Rechtsberater der us-amerikanischen Regierung.

O-Ton 4 Jan C. Harder: Ohne die Nichtregierungsorganisationen hätte es den Internationalen Strafgerichtshof in dieser Form und so schnell nicht gegeben. Die Nichregierungsorganisationen, die NGO-Aktivitäten waren entscheidend, um diesen Prozess so schnell voranzutreiben. Erstmals hat sich die Zivilgesellschaft hier stark koordiniert und hat sich fast wie ein Staat als Vertreter bei den vereinten Nationen in die Prozesse eingemischt und hat Stellungnahmen abgegeben, Lobbyarbeit gemacht und auch um Delegierte gekämpft um den Erfolg, die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes zu realisieren.

Sprecherin 1: Rechtsanwalt Jan Harder, Sprecher des deutschen Komittees für einen Internationalen Strafgerichtshof.

Sprecherin 2: Der neue internationale Strafgerichtshof – ein Instrument zur Sicherung der Menschenrechte? Oder nur ein weiterer Streitgegenstand zwischen altem Europa und den USA? Ein Hoffnungsträger für weltweite Gerechtigkeit? Oder ein zum Scheitern verurteiltes Projekt?

Autor: Am Sitz des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes in Den Haag stehen die meisten Büros noch leer. Bis Anfang dieses Jahres bestand das ambitionierte Projekt aus einem Vorauskommando, das nicht mal ein Dutzend Menschen beschäftigte. Mittlerweile arbeiten etwa sechzig Leute für das neue Gericht, darunter auch die frisch gewählte Vizepräsidentin, die ghanaische Juraprofessorin Akua Kuenyehia:

O-Ton 5 Akua Kuenyehia (Original Englisch): Ganz unabhängig von konkreten Verfahren muss die Präsidentschaft dafür sorgen, dass das Gericht funktioniert. Und da gibt es viel zu tun. Wir müssen uns über Verfahrensregeln einigen, wir benötigen ethische Grundregeln, wir müssen eine Geschäftsordnung entwickeln, es gibt eine Unmenge von Verwaltungsarbeit, die erledigt werden muss. Und wir müssen viele Verhandlungen mit den Vertragstaaten vorbereiten.

Autor: Derzeit beschäftigen die Ansätze für Budgets und die Konzeption der Software für die interne Kommunikation das Gericht und seine Mitarbeiter noch weitaus mehr als Ermittlungen in Sachen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit oder schwere Kriegsverbrechen. Es gibt aber auch einige höchst brisante inhaltliche Probleme, an deren Lösung Mitarbeiter des Gerichts fieberhaft arbeiten, weil sie schon für die ersten Amtshandlungen erhebliche Bedeutung haben können. Eines der heiklen Projekte bearbeitet der Jurist Gilbert Bitti. Der agile Franzose, der als Mitglied der französischen Regierungsdelegation die diplomatischen Vorarbeiten für den Internationalen Ständigen Strafgerichtshof mitgestaltet hat und der auch schon beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien praktische Erfahrungen sammeln konnte, leitet jetzt die Abteilung „Teilhabe und Entschädigung von Opfern".

O-Ton 6 Gilbert Bitti (Im Original Englisch): Vor dem Jugoslawien- und vor dem Ruanda-Tribunal waren Opfer Zeugen der Anklage, sie wurden als Beweismittel für ein Verfahren gebraucht, als Zeugen für die Anklage und dann wurden sie in ihr Heimatland zurückgeschickt. Und Nichtregierungsorganisationen in denen Opfer organisiert waren, wollten diese Situation verändern. Opfer sollten auf jeden Fall selbst das Recht bekommen, ihre Position zu vertreten, nicht die Position der Ankläger, sondern die eigene – und das war ein Kampf, aber jetzt dürfen sie genau das: Vor Gericht die eigenen Ansichten vertreten und nicht die des Chefanklägers.

Zitator: Rom-Statut, Artikel 69 Nr. 3: Sind die persönlichen Interessen der Opfer betroffen, so gestattet der Gerichtshof, dass ihre Auffassungen und Anliegen in von ihm für geeignet befundenen Verfahrensabschnitten in einer Weise vorgetragen und behandelt werden, welche die Rechte des Angeklagten sowie die Fairness und Unparteilichkeit des Verfahrens nicht beeinträchtigt oder damit unvereinbar ist. Diese Auffassungen und Anliegen können in Übereinstimmung mit der Verfahrens- und Beweisordnung von den gesetzlichen Vertretern der Opfer vorgetragen werden, wenn der Gerichtshof dies für angebracht hält.

Sprecherin 2: Aber welche Anliegen und Auffassungen sollen vorgebracht werden können? Und was sind geeignete Verfahrensabschnitte? Und unter welchen Bedingungen sollte so ein Vorbringen nicht angebracht erscheinen?

O-Ton 7 Gilbert Bitti (Original Englisch) Übersetzer 2: Es gibt viele Schwierigkeiten. Die erste ist: Wie sollen wir die Beteiligung von vielleicht 500.000 oder mehr Opfern organisieren? Das erscheint fast ausgeschlossen. Aber es gab bei den Verhandlungen eben viele, die sagten: Wir können nicht alles, was wir gut und wichtig finden, sein lassen, nur weil es schwer umsetzbar erscheint. Einen ungefähren Weg geben uns jetzt die Verfahrensregeln vor: Wenn sich zu viele Opfer aktiv an dem Verfahren beteiligen wollen, hat das Gericht das Recht, ihnen vorzuschreiben, dass sie sich 1,2,3,4,5 Anwälte nehmen sollen, die ihre Interessen vertreten. Mehr geht nicht. Und wir müssen ihnen sagen: entweder einigt ihr euch auf einige wenige Anwälte als Repräsentanten, oder wir müssen die Anwälte eigenmächtig selbst bestimmen.

Zitatorin: Ich bin 40 Jahre alt und komme aus Pho Minh. Am 10 Mai 1965 war ich unterwegs, um einzukaufen. Da tauchte ein Schwarm amerikanischer Jets auf, die Bomben abwarfen. Ich hörte eine gewaltige Explosion hinter mir und ich war sofort von Flammen erfasst. Die Hitze war grauenvoll. Ich lief schreiend umher, ich hörte auch die verzweifelten Schreie von Frauen und Kindern – und dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Krankenhaus und war am ganzen Körper bandagiert. Als der Verband gewechselt wurde, sah ich, dass meine Haut verbannt war, und dass eine eitrige Flüssigkeit aus den Wunden quoll. Mein linkes Ohr war verbrannt. Mit meinem linken Augen konnte ich fast nichts mehr sehen. Ich konnte vor Schmerzen nicht schlafen. Nach sechs Wochen Krankenhausbehandlung hatte sich mein Zustand kaum gebessert, ich hatte Fieber. Meine Wunden stanken. Seitdem sind jetzt zwei Jahre anstrengender Behandlungen vergangen. Meine Haut ist völlig vernarbt, meinen linken Arm und meinen Nacken kann ich kaum noch bewegen, die Wunden an meinem Rücken sind immer noch nicht verheilt, und ich habe immer noch schwere Schmerzen.

Sprecherin: 1 Hoang Tan Hung, Vietnam 1965.

Autor: Gilbert Bitti ist ein leidenschaftlicher Kämpfer für Menschenrechte, vor allem aber auch ein Jurist, der die Vorschriften aus den Verfahrensregeln und aus dem Statut stets sofort präsent hat. Und wenn es keine Vorschriften gibt sucht er sein Heil darin, dem Problem durch eine streng systematische Herangehensweise Herr zu werden.

O-Ton 8 Gilbert Bitti (Original Englisch): Meine Hauptarbeit ist, Modelle zu entwickeln, wie diese Vertretung der Opfer funktionieren könnte. Ich sehe verschiedene Möglichkeiten. Eine bevorzugte Idee ist, dass man Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen erbittet und dann jeweils homogene Gruppen von Opfern zusammenstellt, die von einer NGO repräsentiert werden. Aber: Was ist eine homogene Opfergruppe? Opfer aus einer Region? Menschen eines Geschlechts? Wir könnten zum Beispiel alle Frauen, die in einem Konflikt sexuelle Gewalt erlitten haben, von einer oder zwei Anwältinnen vertreten lassen. Diese Opfergruppen zusammenzustellen wäre nicht einfach, aber wenn man eine Organisation findet, dann hat man jemanden mit dem man verhandeln kann ...

Autor: Wenn die Opfer, die Folter, Vergewaltigungen oder Massenerschießungen überlebt haben, selbst Beteiligte im Verfahren werden können, bekommen sie damit eine eigene Stimme. Sie können nicht mehr dadurch zum Verstummen gebracht werden, dass sich die Taktik der Anklage im Prozess ändert oder der Angeklagte sich schuldig bekennt. Dort wo Opfer bloß Zeugen sind können sie ohne Aussage nach Hause zurückgeschickt werden. Sprecherin 1: Danielle Cailloux leitet seit einigen Jahren die Betreuung der Zeugen beim Jugoslawien-Kriegsverbrechertribunal :

O-Ton 6 Danielle Cailloux (Original Englisch): Es kann passieren, dass wir Zeugen herbringen und sie dann nach Hause gehen müssen, ohne eine Aussage machen zu können. Das ist schlimm für sie, weil sie sich ja viel Mühe gemacht haben, nach Den Haag zu kommen. Das ist für die Zeugen eine schlimme Erfahrung, weil sie sich fragen, was passiert ist. Sie haben Angst als illoyal oder als unehrlich zu gelten. Die Zeugen kommen hierher, weil sie hier ihre Geschichte erzählen wollen, wir sagen ihnen schon: Achtung, im Gerichtssaal geht es um die Überprüfung von zentralen, in der Anklage enthaltenen Tatsachen. Beantworten Sie die Fragen, sie sollen nicht als Zeugin ihre Geschichte erzählen. Aber viele der Zeugen waren zur Tat 15, 16 Jahre alt und jetzt sind sie in den Zwanzigern. Und wenn sie sich jetzt durchgedrungen haben doch noch mal an die Öffentlichkeit zu gehen, dann ist es natürlich schlimm, wenn sie dort zurückgewiesen werden, denn sie wollten in erster Linie Gerechtigkeit für die Opfer erreichen die nicht überleben haben, und dass es nicht noch einmal zu einem solchen Genozid kommt.

Autor: Diese Enttäuschung der Opfer und Zeugen, ihr Eindruck, dass sie im Prozess nur ein Mittel zum Zweck sind, ist fatal. Angesichts der furchtbaren Verbrechen, die vor den Internationalen Ad-Hoc Kriegsverbrechertribunalen für Ruanda oder das frühere Jugoslawien verhandelt werden, war es gerade ein wichtiges Motiv für die Prozesse, den Ohnmachtsgefühlen der Opfer zu begegnen.

Sprecherin 1: Wolfgang Schomburg war früher am Bundesgerichtshof und ist heute Vorsitzender Richter der 2. Strafkammer am Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien:

O-Ton 7 Schomburg: Ich denke, die für mich wichtigsten Eindrücke des Verfahrens sind weniger Fragen der Verurteilung, sondern mehr die Darstellung von Opfern, Überlebenden und Angehörigen, die hier im Gerichtssaal zum ersten Mal ihr Schicksal schildern können und die dann doch in einer sehr ergreifenden Weise, die man im nationalen Bereich überhaupt nicht kennt, darlegen, dass sie ihr Leben schon aufgegeben hatten, dass sie niemals gedacht hätten, dass diejenigen, die sich hinter ihren Uniformen verschanzen jemals zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen würden. Ich denke, diese Möglichkeit sich überhaupt zu äußern, darzustellen, ist Aufarbeitung, das ist schon eine friedensbewahrende und friedenswiederherstellende Maßnahme. Dazu gehört natürlich auch, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft erfolgt und diese Personen bestraft werden, nicht im Namen des Volkes, sondern im Namen der Völker, wir sind ja nun gewählt worden als Richter von der Vollversammlung der Vereinten Nationen, die repräsentieren wir und wenn dann hier eine Verurteilung ausgesprochen wird, ist das eine klare Aussage: Was denkt die Völkergemeinschaft über diese Taten.

Autor: Die Stellung der Opfer und Zeugen im internationalen Strafverfahren ist aber nicht nur eine Besondere, weil sie Völkermord, besonders schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht oder Verbrechen gegen die Menschheit durchlitten haben – also außergewöhnlich entsetzliche Taten. Oftmals sind sie selbst auch in den Konflikt verwickelt, in dessen Verlauf sie Opfer wurden. Sie sind damit selbst Partei. Ihr Auftritt vor Gericht wird deswegen bisweilen auch von ihnen selbst als Möglichkeit gesehen, diesen Konflikt weiterzutreiben, oder die Position der eigenen Partei vor der Weltöffentlichkeit zu verbessern. Aber die Opfer und andere Zeugen müssen gar nicht unbedingt selbst das Ziel haben, einen Angeklagten besonders zu belasten. Es besteht auch die Gefahr, dass sie unter Druck gesetzt werden.

Sprecherin 2: Haben Opfer und Täter dieselbe Wahrheit erlebt? Wird das Opfer im Prozess zum Täter werden? Hilft die Lüge dem richtigen Ergebnis auf die Spur – oder ist es dann nicht mehr das ‚richtige Ergebnis’?

Autor: Im ersten Verfahren, das vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das frühere Jugoslawien stattfand, sagte am 13. August 1996 der Hauptbelastungszeuge „L" im Verfahren gegen den serbischen Angeklagten Dusko Tadic aus. Während „L"s Vernehmung war die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch heute sind Ls Antworten nicht vollständig auf den Dokumentationsseiten des Gerichts nachzulesen. Tadics Verteidiger konnten aber noch während des Verfahrens nachweisen, dass Zeuge „L“ von der bosnischen Militärpolizei unter Druck gesetzt und einen Monat lang intensiv auf seine Aussage im Verfahren gegen Dusko Tadic vorbereitet worden war. „L“, der selbst Serbe ist, hatte dem Angeklagten Dusko Tadic vorgeworfen, mehrere Gefangene vergewaltigt und getötet zu haben. Seine Aussage wurde vom Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung zwar für null und nichtig erklärt. Gezielte Falschaussagen sind an sich keine Besonderheit des internationalen Strafrechts, doch sie stellen gerade in diesen Verfahren aufgrund des oftmals noch andauernden Konflikts zwischen den Parteien eine größere Gefahr dar, weil sie auch durch staatliche Organisationen auf einer Seite herbeigeführt oder gefördert werden können.

O-Ton 8 Bitti (Original Englisch): Die Opfer können auch Beschwerde erheben, wenn der Chefankläger sich entscheidet in einem Verfahren keine Anklage zu erheben. Dann können Sie zu den Richtern der Vorverfahrenskammer gehen und dort verlangen, dass doch Ermittlungen eingeleitet werden. Die Opfer können also bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium aktiv werden. Der Chefankläger hat da noch nichts gemacht außer "Nein!" zu sagen. Allerdings ist bislang unklar, was passiert, wenn der Chefankläger keine Ermittlungen einleitet, aber einen Antrag auf Einleitung der Ermittlungen auch nicht ablehnt. Es ist einfach, wenn er "ja" sagt. Dann wird ermittelt. Und wenn er "nein" sagt, gibt es die Möglichkeit der Beschwerde dagegen. Aber was passiert, wenn er gar nichts sagt, sondern sich Zeit lässt, vielleicht ein Jahr oder zwei Jahre? Dürfen die Opfer sich dann auch an die Vorverfahrenskammer wenden und sich dort beschweren, weil der Ankläger bislang nicht entschieden hat?

Weißes Rauschen

Zitator: Ein Soldat riss ein Handtuch in schmale Streifen und wollte mir einen davon vor die Augen binden. Ich hatte Angst und begann mich zu wehren, da schlug er mit dem Gewehrkolben auf meinen Kopf ein. Ich war halb bewusstlos und blutete. Dann verbanden sie auch den anderen 17 Gefangenen die Augen. Viele bettelten um ihr Leben. Mir lief das Blut in die Augen. Und plötzlich hörte ich Schüsse. Ich wusste: Das war's. Ein älterer Mann neben mir zuckte ein paarmal und fiel auf mich. Ich hörte einen kleinen Jungen, der auch bei mir stand, nach seiner Mutter schreien. Und plötzlich war es still und ich spürte etwas warmes Weiches in meinem Gesicht und auf meinem ganzen Körper. Das alles dauerte ein paar Sekunden, aber es schien mir als ereignete es sich in Zeitlupe. Ich lag am Boden, hatte die Augen geschlossen, das Gesicht hatte ich in den Boden gedrückt, ich hörte die schrecklichen Geräusche, dann traf mich etwas an der Schulter und im Nacken. Irgendwer schlug mich und ich wurde bewusstlos. Als ich wieder aufwachte, lag ich in einer Blutlache, überall hörte ich Mosquitos und meine Augen waren so verquollen, dass ich nichts sehen konnte.

Sprecherin 1: Ranachith Yimsut, Kambodscha, 1977.

Autor: Die Empörung über die Grausamkeiten, denen die Opfer in Diktaturen oder in Kriegen ausgesetzt sein können, erweist sich als ambivalent: Aus dieser Empörung schöpft das humanitäre Völkerrecht seine Kraft. Auch den Internationalen Ständigen Strafgerichtshof gäbe es nicht, wenn nicht gerade diese Empörung die internationalen Menschenrechtsorganisationen motiviert hätte, sich so nachhaltig und engagiert für ihn einzusetzen. Sie kann aber gerade mit Blick auf den neuen Internationalen Strafgerichtshof auch zu einer Überforderung führen. Danielle Cailloux :

O-Ton 9 Danielle Cailloux (Original Englisch): Selbst in kleinen Dörfern verfolgen die meisten die Gerichtsverfahren sehr genau. Und viele rufen uns nach dem Urteilspruch an, weil sie finden, dass die Strafe nicht hart genug ist. Das ist ähnlich wie im nationalen Strafrecht. Ganz schlimm ist es, wenn ein Angeklagter freigesprochen wird. Das verstehen die Zeugen nicht, sie sagen: Ich habe die Verbrechen bezeugt, warum glaubt der Richter mir nicht – und sie verstehen nicht, dass es in den Verfahren nicht nur um ihre eigene Aussage geht, sondern dass es viele Beweismittel gibt, die den Richter dazu bringen zu verurteilen oder auch nicht zu verurteilen.

Autor: Das Spannungsfeld zwischen Interessen der Opfer und Rechten der Angeklagten sieht auch Richter Wolfgang Schomburg, der kurz nach seinem Amtsantritt eine kleine Revolution im Ad Hoc-Kriegsverbrechertribunal auslöste, weil er mehrere Angeklagte aus der in Den Haag routinemäßig verhängten, oft Jahre dauernden Untersuchungshaft freiließ, um so die Standards eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens zu wahren:

O-Ton 10 Schomburg: Unsere Kammer hat entschieden, dass es ein Grundprinzip des Strafrechts ist, das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu wahren und wenn absehbar ist, dass in angemessener Zeit keine Kapazität zur Verfügung steht, die Angeklagten zu hören und andererseits der Fall nicht so gravierend ist, ergibt es sich aus menschenrechtlichen Überlegungen zwingend, dass Haftverschonung zu gewähren ist. Wir sind an die Grundsätze des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gebunden und auch an die Vorschriften des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Die Unschuldsvermutung spricht für den Angeklagten, und wenn in vernünftiger Zeit ein Gericht nicht zur Verfügung steht, dann bleibt nur die Haftverschonung. Es gibt natürlich Fälle, wo aufgrund der Schwere der Tat oder wegen Fluchtgefahr solche Erwägungen ausscheiden. Aber das ist herausgearbeitet worden von Straßburg, dass auch bei schwersten Fällen von Kriminalität Haftverschonung nicht ausgeschlossen sein kann und eines ist mir besonders wichtig: Wir sind hier aufgerufen die Menschenrechte der Opfer zu verteidigen an allererster Stelle, aber wir dürfen auch nicht die fundamentalen Verfahrensrechte der Angeklagten in Frage stellen.

Autor: Diese fundamentalen Verfahrensrechte sind dabei schon im nationalstaatlichen Strafrecht von der Politik in den letzten Jahren stark eingeschränkt worden. Auf internationaler Ebene Verfahrensrechte für Angeklagte zu sichern, die in den Medien oft schon als „Feinde der Menschheit" tituliert wurden, ist noch weitaus schwieriger.

Sprecherin 2: Die Unschuldsvermutung für Saddam Hussein oder für Augusto Pinochet? In dubio pro reo – auch für den angeklagten Folterknecht?

Sprecherin 1: Der britische Rechtsanwalt Steven Kay, der seit dem ersten Strafverfahren in Den Haag Slobodan Milosevic verteidigt und den Ehrentitel eines Queens Counsel trägt, äußerte seine Zweifel am Verfahrensrecht auf dem diesjährigen Deutschen Strafverteidigertag in Dresden

O-Ton 11 Kay (Original Englisch): Es wird viel über Gerechtigkeit geredet, die das Ergebnis eines solchen Verfahrens ist. Aber Gerechtigkeit ist nichts, was den Opfern, Zeugen oder dem Ankläger gehört. Sie bemisst sich daran, wie mit dem Angeklagten im Prozess verfahren wurde. Wenn wir hier über diese internationalen Strafverfahren reden, reden wir über Fälle, in denen ungeheure Papierberge abgearbeitet und Mengen von Beweismittel und Zeugen aufgeboten werden. Wenn schließlich die Verteidigung Teil dieser gigantischen Justizmaschine wird, dann beschäftigt der Ankläger bereits 40 Staatsanwälte – zumindest wenn es gegen einen früheren Staatschef geht. Der Verteidiger arbeitet dagegen mit noch einem anderen Kollegen zusammen. Fast möchte ich als Eindruck formulieren, dass hier die Ressourcen ein klein wenig ungleich verteilt sind. Es wirkt nahezu so, als verfüge die eine Seite über IBM-Raketen, während die andere mit leichter Flak schießen muss, in meinem Fall auch noch mit alten Geschützen. Es geht in diesen Verfahren also letzten Endes darum, ein Spektakel vorzuführen: Es wird behauptet, der Angeklagte ist daran[gestisch, Anm d. Autors] schuld und dafür verantwortlich – und dann wird der Prozess auf eine Ebene geholt, auf der man sich der Zustimmung der Öffentlichkeit sicher wähnt, egal, was die Beweislage tatsächlich hergibt. Hauptsache es passt zu dem, was man von einem Ankläger erwarten kann. Die Verfahren werden eben idealistisch geführt, das ganze System ist idealistisch und der arme Verteidiger findet sich schliesslich einem riesigen Saal wieder, dessen eine Wandseite voller Videos steht, die andere voller CD-Roms und an den anderen Wänden stehen Regale voller Akten – und man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Ich hatte vor kurzem ein Treffen mit der Gerichtskanzlei in Den Haag, weil mein Etat für die Milosevic-Verteidigung gekürzt worden war. Mir wurde gesagt, am Gericht würden im Jahr 11 Millionen Dollar für die Verteidigung ausgegeben. Naja, habe ich geantwortet, es sind ja auch viele, große Fälle, drei Kriege und zwei Bürgerkriege, sogar die Marine kämpft und es geht um Dubrovnik, da ist es doch nicht zu viel 11 Millionen Dollar auszugeben. Mir wurde klargemacht, dass es unpopulär wäre, auch nur so etwas zu denken oder gar bei der UNO anzuklopfen und um Aufstockung meines Etats zu bitten. Aber wenn wir nicht ordentlich verteidigen können, werden die Verfahren hier ganz zur Farce.

Autor: Dabei geht es nicht nur um die Verteilung des Geldes. Geld ist die Garantie für die Arbeitsfähigkeit der internationalen Strafjustiz – aber auch für ihre Unabhängigkeit. Schließlich muß es ja möglich sein, auch gegen die großen Geldgeber zu ermitteln, ohne finanziell ausgetrocknet zu werden.

Sprecherin 1: Der Niederländer Sam Muller ist geschäftsführender Direktor der Allgemeinen Gerichtsdienste – und damit auch für den Etat des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes verantwortlich:

O-Ton 12 Sam Muller (Im Original Englisch): Es ist ziemlich schwierig die Budgets der internationalen Gerichte zu verwalten, weil es hier um Gelder auf internationaler Ebene geht. Es sind Gelder um die der UNHCR, das Welternährungsprogramm, UNAIDS, Erbebenopfer oder die Weltgesundheitsorganisation ringen. Aber die Gerichte müssen, anders als die WHO, unabhängig sein. Und Unabhängigkeit stellt sich nicht ein, wenn man auf ad hoc-Gelder angewiesen ist. Wir benötigen eine solide Finanzierung. Wir müssen fest zugesicherte, regelmäßig überwiesene Gelder haben. Anders als das Welternährungsprogramm, das gerade mal 40 % seines Etats aufgrund fester Zusicherungen erhält und für den Rest des Budgets darauf angewiesen ist, dass Länder konkrete Spenden für einzelne Programme fließen lassen, die sie gerade unterstützen wollen.

Autor: Die Gefahr, dass Geld als Druckmittel eingesetzt wird, ist auch deswegen so groß, weil die internationale Strafjustiz nicht nach dem so genannten Legalitätsprinzip funktioniert. In Deutschland müssen Polizei und Staatsanwaltschaft bei jedem Verdacht auf einen Verstoß gegen Gesetze ermitteln. Der Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof könnte das aufgrund der begrenzten Ressourcen nicht – und er muss es auch nicht. Er kann sich seine Fälle selber aussuchen und nach den Vorermittlungen entscheiden, ob er Anklage erhebt. Dieses Verfahren, die Entscheidung über Ermittlungen allein dem Staatsanwalt zu überlassen, heißt in der Sprache der Juristen Opportunitätsprinzip. Schon der Begriff signalisiert, dass diese Form von Strafjustiz sich nicht nur von Gerechtigkeitserwägungen leiten lässt.

Sprecherin 2: Was spricht dafür, das Massaker zu untersuchen, das Milizen im Kongo angerichtet haben, aber nicht die Folter, die kurdische Peschmerga in türkischen Gefängnissen erdulden mussten? Warum sollte ein britischer General, der einen Luftangriff auf eine von Zivilisten bewohnte irakische Region fliegen läßt nicht wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden, ein kolumbianischer Guerilla Kommandant, dessen Truppe die Vergewaltigung und Ermordung von über zwanzig Frauen zur Last gelegt wird, aber doch?

O-Ton 13 Kay (Original Englisch): Denken Sie über den Internationalen Strafgerichtshof nach: Der Sicherheitsrat kann Anklagen blockieren, also haben Mr. Bush und Mr. Blair eine Art eingebauten Immunitätsschutz. Sie können weiterhin machen, was Sie wollen. Die, deren Verbrechen beim Strafgerichtshof auf die Tagesordnung gesetzt werden, werden die sein, die keinen großen weltpolitischen Einfluss haben und die sich nicht selbst wehren können. Derzeit gibt es ja die große Debatte darüber, wessen Verbrechen den Richtern denn als erstes aufgetischt werden. Wird es Sharon sein oder Blair oder Bush? Nun diese Drei werden im Ernstfall alle vom Sicherheitsrat aus der Bredouille geholt. Es wird derzeit nach günstigeren Objekten gesucht, nach weichen Zielen. Und wenn man akzeptiert, dass auch dieses Manövrieren der Politik eine großartige Sache ist, und es sich lohnt, sich mit diesen Zielen zu befassen, bestens! Dann wird die Welt bald ein sehr viel besserer Ort sein. Sie hat ein besserer Ort zu sein. Aber wir als Strafverteidiger sollten weniger idealistisch sein und die Welt nicht durch rosarot getönte Brillen sehen. Die Welt wird so nicht in absehbarer Zeit vom Bösen befreit werden können. So läuft es bestimmt nicht.

Weißes Rauschen

Zitator: Ich wurde auf dem Campus der Universität verhaftet. Zusammen mit anderen brachten sie mich zur Marine Kriegs Akademie, das war ein stählernes, vier Stockwerke hohes Gebäude. Als wir die Treppen hochgingen, hörten wir entsetzliche Schreie. Wir wurden in einen Raum getrieben, dort mussten wir die Hände in den Nacken legen und durften uns nicht mehr bewegen. Ich wurde am nächsten Tag drei Stunden verhört. Ich wurde ausgezogen und mit Fäusten und Stiefeln getreten und geschlagen. Dann wurden Stromstöße durch meine Hoden geleitet. Später wurden auch an anderen Körperteilen Stromleitungen angelegt. Ich hatte das Gefühl der Strom würde mich verbrennen. Schließlich musste ich auf allen Vieren durch die Räume krabbeln. Am Boden lagen überall gefolterte Menschen, die mit Malen und blauen Flecken übersät waren. Einer der dort Liegenden war ein Bekannter, sie hatten ihm das Trommelfell mit einer Nadel durchstochen und er brüllte vor Schmerzen. Viele hatten gebrochene Gliedmaßen und konnten sich deswegen nicht bewegen. Manchen waren auch die Rippen gebrochen worden, so dass ihnen jeder Atemzug Schmerzen bereitete.

Weißes Rauschen

Sprecherin 1: Robinson Rojas Sandford, Chile 1976.

Autor: Nirgendwo ist geregelt, wann der der Ständige Internationale Strafgerichtshof tätig werden muß. Dagegen aber steht fest, wann er nicht tätig werden darf. Gegen Angehörige von UNO-Friedenstruppen darf der Chefankläger die nächsten 12 Monate aufgrund erfolgreicher US-Intervention im UN-Sicherheitsrat nicht ermitteln. In allen Verfahren, die der Internationale Strafgerichtshof verhandeln will, hat der Sicherheitsrat das Recht, die Ermittlungen für 12 Monate auszusetzen. Diese Frist kann in einem Verfahren auch mehrmals ausgeschöpft werden. Außerdem können die Ankläger und Richter des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes nur tätig werden, wenn sich die Verbrechen auf dem Boden eines Vertragstaates ereignet haben und wenn die für die Verbrechen zuständigen Staaten die Verfolgung nicht selber übernehmen – dieses Prinzip nennen Juristen Komplementaritätsprinzip.

Sprecherin 1: Der us-amerikanische Rechtsanwalt Lee Casey:

O-Ton 14 Lee Casey (im Original Englisch): Das Problem mit dem Komplementaritätsprinzip ist: Der Internationale Strafgerichtshof darf nur ermitteln, wenn der Staat um den es geht das Verfahren selbst nicht angemessen oder ohne den Willen zur Verurteilung führt. Aber was eine “angemessene Ermittlung” und was eine entsprechend akzeptable Bestrafung ist wird nirgendwo geregelt. Das entscheidet allein der Internationale Strafgerichtshof selbst und macht sich damit zu einer Art Oberinstanz. Das ist nicht aktzeptabel, denn die USA können sehr wohl mit guten Gründen eine andere Auffassung haben, was das internationale Recht in Einzelnen verlangt und wie es auszulegen ist. Nach dem Rom Statut könnte der Internationale Strafgerichtshof im Streitfall aber immer sagen: Unsere Interpretation ist richtig und setzt sich durch.

O-Ton 15 Luis Moreno Ocampo (Im Original Englisch): Das Prinzip der Komplementarität erfordert Anstrengungen auf nationaler Ebene um eine Verfolgung der Verbrechen dort zu ermöglichen. Der Internationale Strafgerichtshof muss diese Bemühungen sorgfältig beurteilen, dabei muß er Respekt vor den unterschiedlichen Rechtskulturen zeigen. Es gibt Erfahrungen wie in Ruanda, wo das Kriegsverbrechertribunal vielleicht 1000 Verfahren eingeleitet hat und wo die traditionellen Gachacha Gerichte jetzt über 100000 Verfahren führen, und so die Einbeziehung der ganzen Gesellschaft ermöglichen. Dieses Nebeneinander von nationaler und internationaler Strafjustiz kann auch für uns Zukunft haben.

Sprecherin 1: Der Chefankläger des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes Luis Moreno Ocampo

Autor: Der Internationale Ständige Strafgerichtshof ist ein schwacher Gerichtshof, denn er verfügt über keine Machtmittel. Er kann weder auf eine Polizei zurückgreifen, noch hat er im Hintergrund einen Staat, der über ein Gewaltmonopol verfügte. Seine Richter können Zeugen nicht ohne weiteres zwangsweise vorladen und der Beschuldigten kann das Strafgericht nur mit Unterstützung von Militär und Polizei der Nationalstaaten habhaft werden.

Sprecherin 1: Gleichzeitig ist er aber auch ein starker Gerichtshof, denn er ist nicht in ein ausgeklügeltes System der Gewaltenteilung eingepaßt. Er unterliegt keiner direkten Kontrolle – weder durch die Vertragstaaten noch durch ein anderes übergeordnetes Gericht. Es bleibt der Welt, den Staaten, ihrer Öffentlichkeit jetzt nach der Wahl der Richter, des Staatsanwaltes und des Gerichtskanzlers, also nur die Chance informell durch gezielte Lobbyarbeit Einfluss auf die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes zu nehmen.

Autor: Die Wahl Ocampos ist bei Nichtregierungsorganisationen und Regierungen auf Zustimmung gestoßen. Der ehemalige Staatsanwalt, der sich in den 90er Jahren vor allem für die Bekämpfung der Korruption engagiert hat, gilt als hartnäckig – und er ist in verschiedenen Kulturen zu Hause. Als argentinischer Jurist kennt er das kontinentaleuropäische Strafrecht gut, als langjähriger Gastprofessor an renommierten us-amerikanischen Universitäten weckt er Hoffnungen, dass es trotz der Blockadestrategie der Bush-Administration zu einer zumindest gleichgültigen Kooperation zwischen Strafgerichtshof und USA kommen könnte. Außerdem ist er mit der Szene gut vertraut, die international für die Menschnrechte kämpft. Wenn er Mitte Juni sein Büro in Den Haag beziehen wird, warten dort bereits hunderte Eingaben auf ihn: Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen, die nach dem Statut des Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes strafbar sein könnten. Ein heikles Thema mit dem sich der frisch gewählte Ankläger auf jeden Fall wird auseinander setzen müssen ist der Irakkrieg. Zwar ist der Irak so wenig Vertragspartei wie die USA – aber in der Koalition gegen das Baath Regime haben auch Truppen von Vertragstaaten wie Spanien, Großbritannien oder Australien gekämpft. Jan Harder von der deutschen Koalition für einen internationalen Ständigen Strafgerichtshof:

O-Ton 15 Harder: Die andere Sache ist, dass unserem Verständnis nach, der Irak-Krieg ein Kreuzweg auch für den Internationalen Strafgerichtshof ist, und es wird sich zeigen, wie die Weltgemeinschaft und auch die Mitarbeiter des Gerichts damit umgehen werden. Aus meiner Sicht müssen sie tätig werden, sie müssen Informationen sammeln, sich mit der Kriegsführung der Koalition auseinander setzen und eine Zuständigkeit ist auf jeden Fall gegeben, denn auch britische Soldaten haben teilgenommen im Irak. Hier mit Blick auf den Irak Krieg könnte das dazu führen, dass man wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermitteln muss: die Dumdum-Geschosse, die Splitterbomben, die eingesetzt wurden, da könnte man eine Beihilfe zu diesen Angriffen sehen und eine kriegsrechtlich ungerechtfertigte Handlung sehen.

Autor: Mit diesen Ermittlungen würde der Chefankläger zwar seine Unabhängigkeit von den militärisch starken Staaten des Westens belegen und zeigen, dass die internationale Strafjustiz unabhängig von der Machtfülle der beschuldigten Personen vorgeht. Er würde gleichzeitig aber alle Befürchtungen der USA bestätigen, dass eine internationale Strafjustiz leicht aus dem Ruder laufen kann und das Handeln auf internationaler Ebene nachhaltig erschwert. Damit wäre die Tür für jede Form der Zusammenarbeit auf lange Sicht zugeschlagen. Wahrscheinlicher ist deswegen, dass sich das erste Verfahren tatsächlich mit den Verhältnissen in einem der kleineren lateinamerikanischen oder afrikanischen Vertragstaaten befassen wird. Nachdem auf Initiative der Vereinten Nationen schon Sondergerichte für Sierra Leone und Kambodscha eingerichtet worden sind, stehen Kolumbien und die Demokratische Republik Kongo weit oben auf der Liste der Kandidaten für erste Ermittlungen.

O-Ton 16 Vereidigungszeremonie IStGH

Zitatorin: Ich hörte, dass die Soldaten in der Gegend herumstreunten. Als sie in unser Haus kamen, lief ich weg. Aber es begann in Strömen zu regnen. Deswegen entschloss ich mich später vorsichtig nach Hause zurückzukommen. Bei uns zu Hause suchten noch viele andere Menschen Schutz vor dem Regen. Dann kamen die Soldaten. Es waren viele. Vier von ihnen betraten das Haus. Sie sprachen Kinyarwanda. Sie nahmen mir das Baby weg und zwangen mich die Sachen, die im Haus gestohlen hatten zu tragen. Später übergaben sie die Beute einem Mann, den sie auch gefangen genommen hatten und ich musste sie alleine weit in den Wald hineinbegleiten. Dann war ich alleine mit ihnen. Ich wurde dreimal vergewaltigt. Sie sagten nichts und ich sagte nichts. Schließlich gingen sie weg. Ich hatte erst Angst mich zu bewegen und wegzugehen, aber schließlich brach ich auf und kam morgens um halb acht zu Hause an. Mein Mann behandelte mich nicht schlecht. Er hatte nur Angst, dass mich die Soldaten mit einer Krankheit infiziert haben könnten. Ich machte einen Test, aber ich hatte mich nicht angesteckt. Mein Mann sagte mir, ich solle niemandem gegenüber den Überfall erwähnen. Sag nur, dass du ein paar Stunden draußen warst.

Sprecherin 1: Georgette W., Kongo, Juni 2002.

O-Ton 17 Vereidigungszeremonie

Autor: Die Vereidigung der 18 Richterinnen und Richter des neu geschaffenen Internationalen Ständigen Strafgerichtshofes am 11. März 2003 in Den Haag war eine prachtvolle feierliche Zeremonie. Aber das, was viele als Schritt in eine neue Moderne des Internationalen Rechts ansehen, fand in einem der ältesten Gebäude der Stadt statt, in dem sich im 14. Jahrhundert die Ritter des Goldenen Vlieses versammelt hatten. Der Sitz des Internationalen Strafgerichtshofes selbst, ein hoch aufschießender weißer Turm in einer neu errichteten Bürostadt am Rande von Den Haags Zentrum, ist bis auf weiteres noch eine Baustelle.

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Weiterführende Links

    Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof | http://www.iccnow.org/
    Der Ständige Internationale Strafgerichtshof | http://www.icc-cpi.int/php/index.php
    Sammelseite aller Internationalen (Straf-)Gerichtshöfe und Sondertribunale | http://www.pict-pcti.org/
    Hintergrundtexte zum IStGH/ICC | http://www.globalpolicy.org/intljustice/icc/

 

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